Predigt von Uli Bandt am 25.12.2023 in St. Remberti
Wenn ein Dalai Lama stirbt, dann verkörpert sich seine Seele nach 49 Tagen in einem Kind wieder. 14 Mal war es bisher ein Junge. Der jetzige Dalai Lama hält es allerdings durchaus für möglich, dass er in einem Mädchen wiedergeboren wird; vielleicht nicht einmal auf dem Gebiet Chinas. Das wird die Suche erheblich erschweren. Schon bald nach seinem Tod werden sich also die Weisen des tibetischen Buddhismus, die Hohen Lamas, auf den Weg machen, allerlei Orakel befragen und schließlich nach dem neu inkarnierten Nachfolger suchen. Das kann Jahre dauern. Haben sie schließlich einen möglichen Anwärter gefunden – der jetzige Dalai Lama war damals gerade vier Jahre alt-, so muss er allerlei Prüfungen bestehen. Und erst dann fällt die Entscheidung.
Nicht immer ist dieses Verfahren eindeutig. Es hat mitunter schon mehrere Kandidaten gegeben. In einem solchen Falle wird die Wiedergeburt des Dalai Lama unter diesen verschiedenen Namen gewählt.
Das mag die Theorie der Wiedergeburt etwas in Frage stellen, doch auch die kritischen Geister werden anerkennend bestätigen müssen, dass großartige, überzeugende und eindrucksvolle Persönlichkeiten aus diesem Wahlvorgang hervorgehen.
Nüchtern betrachtet, könnte man aber auch sagen: Dieses Verfahren bestätigt einfach nur die Macht unserer Erwartungen. Wie viele Dalai Lamas hüten in den Bergen des Himalayas wohl Ziegen, weil kein Orakel den Weg zu ihnen wies. Ihnen ist ein solches Zutrauen, ein solches Bemühen um ihr geistiges, spirituelles und persönliches Wachstum nicht zu Teil geworden, wie Tenzin Gyatsho, dem 14. Dalai Lama. Und er selbst scheint dieses Verfahren mitunter in Frage zu stellen.
Warum erzähle ich so etwas nun gerade zu Jesu Geburtstagsfeier?
Weil die Welt nur so wimmelt von unerfüllten Möglichkeiten, denen wir keine Chance geben, weil unsere Denkmuster viel zu festgefahren und engstirnig sind! Wir glauben noch nicht einmal daran, dass es abseits der Autobahnen unseres gewohnten Denken und Handelns begehbare Pfade geben könnte.
Die Geburtsgeschichte Jesu weist viele Details auf, die darauf hin deuten, dass sie passend gemacht wurde für das Autobahndenken jener Zeit. Sie ist erst Jahrzehnte nach seinem Tod erdichtet worden. Die vielen Bezüge zu den alttestamentlichen Messias-Verheißungen, z.B. die Geburt in Bethlehem, die Abstammung von König David, die Jungfrauengeburt, die Flucht nach Ägypten. All das sollte es den Hörern leichter machen, den erwarteten Messias in Jesus zu glauben.
Ein uneheliches Kind, in einer Zimmermannsfamilie im „assimäßigen“ Nazareth geboren, das hätte man doch keinem als den Erlöser glaubhaft machen können. In der frühen Polemik gegen die ersten Christen hieß es gar, Jesus sei der Bastard eines römischen Legionärs gewesen, der sich an Maria vergangen hat.
Schauen wir uns die heutige Zeit an, dann ahnen wir, dass es so undenkbar gar nicht ist! Es war Krieg. Palästina war besetzt! Und Vergewaltigung war schon immer eine der brutalsten und demütigendsten Kriegswaffen.
Aber Gott kann aus Steinen Kinder erwecken, wie Jesus später es selber einmal sagt. In unseren Unmöglichkeiten, in unseren größten Niederlagen, selbst noch in unserer blinden Zerstörungswut, weiß er einen lebendigen Stern zum Strahlen zu bringen. Und er kann es, weil sich ihm Menschen zur Verfügung stellen, die in all ihrer Einfachheit seiner Leben spendenden Kraft vertrauen. Eine Mutter, die dieses Schmerzens-Kind trotz aller Widrigkeiten liebt. Ein Vater, der zu dem möglichen Bastard steht, gegen alles Getuschel. Und Hirten, die den beiden helfend in dieser schwierigen Nacht zur Seite stehn.
Ein jeder vernünftige Mensch hätte wohl zu jener Zeit eine solche Familie bestenfalls als einen Fall für’s Bürgergeld abgeschrieben. Aber doch nicht geglaubt, dass aus dem Provinznest Nazareth irgendeine Alternative zu dem bedrückenden Alltag der Juden kommen könnte. Das Leben der Juden war alternativlos: Sich entweder dem politischen Regime anzupassen und sich irgendwie durchzuwurschteln oder sich in irgendeiner Weise dem aktiven Widerstand gegen die Römer anzuschließen. Was sollte anderes denn möglich sein als die Wahl zwischen Pest oder Cholera?
Ich kann es mir nicht anders vorstellen, – weil ich selber immer wieder so denke. Was ist denn heute anderes möglich, zum Beispiel hinsichtlich der Ukraine? Soll man die überfallenen Menschen dort einfach ihrem Schicksal überlassen oder muss man ihnen nicht wenigstens helfen, sich zu verteidigen? Pest oder Cholera.
Auf unabsehbare Zeit immer mehr Flüchtlinge bei uns aufzunehmen oder sie vor den Grenzen Europas verrecken zu lassen. Pest oder Cholera.
Lauter unangenehme Alternativen, die meine Gedankenautobahn vorgibt. Allesamt beunruhigend. Und lähmend. Muss ich wirklich meine Heizung auf Wärmepumpe umstellen, auf das Auto verzichten und ständig das Licht ausmachen?
Wie ein Trapezkünstler hänge ich an meinem Trapez und schwinge hin und her und traue mich nicht meinen Wohlstand loszulassen.
Aber wir können uns nicht an den Pfründen der Gegenwart festklammern, wenn wir wirklich eine Zukunft haben wollen. Unsere Zukunft kann nicht eine ewige Fortsetzung unserer Gegenwart sein. Und deshalb werden wir loslassen müssen. Wir wissen das schon lange. Wir werden unser vertrautes Trapez loslassen müssen, unsere Hände ausstrecken und losfliegen.
Weihnachten ist die große Geschichte von der Hoffnung, dass in dem Ungewissen vor uns neues Leben in ungeahnter Fülle wartet. In der Krise eine Chance. In der Ratlosigkeit neue Ideen.
Es ist alles nur eine Frage, wie wir eine Situation deuten. Welche Erwartungen wir pflegen. Ob wir den Daumen nach oben halten oder den Daumen nach unten.
Hoffnung und Vertrauen kann man üben. Der Dalai Lama tut das jeden Tag mehrere Stunden vor dem Frühstück. Und Jesus hat sich gelegentlich in die Wüste zurückgezogen, um neue Zuversicht zu schöpfen.
Auch wir können das im Kleinen tun. Wir ahnen es doch, dass wir letztlich gar keine andere Chance haben als loszulassen. Und dem „Fürchtet Euch nicht!“ zu vertrauen.
Die Welt wird voller Messiasse und Dalai Lamas sein und nicht voller Terroristen und Asylmissbräuchler, wenn wir nur endlich losgehen im Vertrauen darauf, dass Gott für uns alle eine glaubwürdige Zukunft eröffnen wird.
Der Schriftsteller Martin Walser hat das in einem Text wunderbar beschrieben:
Man muss nur den nächsten Schritt tun. Mehr als den nächsten Schritt kann man überhaupt nicht tun.
Wer behauptet, er wisse den übernächsten Schritt, lügt. So einem ist auf jeden Fall mit Vorsicht zu begegnen.
Aber wer den nächsten Schritt nicht tut, obwohl er sieht, dass er ihn tun könnte, tun müsste, der ist feig.
Der nächste Schritt ist nämlich immer fällig. Der nächste Schritt ist nämlich nie ein großes Problem. Man weiß ihn genau.
Eine andere Sache ist, dass er gefährlich werden kann. Nicht sehr gefährlich. Aber ein bisschen gefährlich kann auch der fällige nächste Schritt werden.
Aber wenn du ihn tust, wirst du dadurch, dass du erlebst, wie du ihn dir zugetraut hast, auch Mut gewinnen.
Während du ihn tust, brichst du nicht zusammen, sondern fühlst dich gestärkt. Gerade das Erlebnis, dass du einen Schritt tust, den du dir nicht zugetraut hast, gibt dir ein Gefühl von Stärke.
Es gibt nicht nur die Gefahr, dass du zu viel riskierst, es gibt auch die Gefahr, dass du zu wenig riskierst.
Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.“
Amen, so ist es!