Predigt von Uli Bandt in St. Remberti am 24.12.2023
Die Argentinier sind Weltmeister. Nicht nur im Fußball. Das war letztes Jahr. Jetzt sind sie Inflationsweltmeister. Und weil eine Mehrheit bei der letzten Präsidentenwahl ihre Stimme einem rechtspopulistischen und ultralibertinären Bewerber gab, geht es ihnen von Woche zu Woche noch schlechter und wenn sie gegen die Maßnahmen der Regierung demonstrieren, werden sie in Zukunft auch noch die Kosten für den Polizeieinsatz bezahlen müssen.
Doch eins lassen die Argentinier sich weder verbieten noch nehmen: Ihren Tanz, den Tango argentino. Er ist ein Tanz der Armen, der afrikanische, karibische, jiddische und lateinamerikanische Wurzeln hat und sich aus den Erfahrungen gescheiterter Sehnsüchte, von Ausbeutung, Schmerz und Heimweh speist.
Musik und Text des Tango wirken mitunter schmachtend schwülstig und werden von Westeuropäern gerne belächelt. Doch kaum einer von ihnen wird jemals so tanzen können, wie Frauen und Männer in Buenos Aires, die sich bei einem Tanzabend nicht mehr leisten können als eine kleine Flasche Wasser.
Von diesem Tanz möchte ich euch heute erzählen, weil ich hoffe, dass ihr danach besser verstehen könnt, warum dieser Tanz mir hilft, Gottes Menschwerdung zu verstehen. Dass viele Weihnachtslieder in einem durchaus tanzbaren Dreiertakt geschrieben sind und wie das Tanzen uns vor der Verzweiflung und dem Hassen bewahren kann.
Wenn Argentinier Tango tanzen, dann geht es ihnen nicht in erster Linie um aufregende Schrittkombinationen und akrobatische Drehungen. Zu allererst geht es um die Qualität der Umarmung. Wenn zwei Menschen Tango miteinander tanzen, dann stellen sie sich voreinander, richten sich auf, wenden sich einander zu, legen zwei Hände ineinander und bilden ganz behutsam mit dem anderen Arm einen Kreis.
Dann erspüren sie, wie groß dieser Kreis für die Dauer des nächsten Tanzes sein kann. In einem ersten feinen Einfühlungsprozess ergründen die beiden, wie viel Nähe für sie stimmig ist. Es kann ein Abstand von 20 Zentimetern sein oder auch eine innige Umarmung, bei der sich die Köpfe und Oberkörper eng berühren. Dann hören, riechen und spüren sie einen Menschen, dem sie vorher vielleicht noch nie begegnet sind und nach einer Tanda, einer Tanzrunde von vier Tänzen, vielleicht auch nicht mehr begegnen werden. Und dann, die Musik läuft vielleicht schon 20 Sekunden, begeben sie sich für drei Minuten auf eine gemeinsame Reise. Der Tango in seiner höchsten Form ist das Versprechen, dass ich im Moment des Tanzes ganz für mein Gegenüber da bin und offen für das, was ungeplant in der Resonanz unserer Körper und in unserer Interpretation der Musik entsteht.
Immer, ob näher oder weiter, bleibt der Kreis der Umarmung erhalten. Die Arme dienen nicht dazu, mein Gegenüber irgendwohin zu ziehen. Die Dynamik der Bewegungen entsteht, weil die Tanzenden einander gegenüber bleiben wollen, in gleichberechtigter Beziehung sozusagen. Nicht durch das Zerren der Hand zwinge ich meinen Partner, sondern lade ein durch eine kleine Drehung des Brustbeins.
Oft drücken sich fremde Tanzpartner nach einem gelungenen Tanz fest und innig. Es ist ein unbeschreibliches Glück so in Harmonie gewesen zu sein. Man wagt es in der Kirche ja kaum zu sagen: Es ist mitunter schon sehr erotisch; aber keine Erotik, die Besitzansprüche erhebt.
Um Tango in solcher Weise tanzen zu können, braucht es viele Jahre der Übung. Denn das Entscheidende ist, dass ich in der Umarmung, in allen Bewegungen, Schritten und Drehungen immer meine eigene Achse und Balance wahre. Erst wenn ich für mein Gleichgewicht mein Gegenüber nicht als Stütze brauche, entfaltet der Tango seine ganze Schönheit, entsteht in der Mitte zwischen zwei souveränen Tanzpartnern ein Drittes, ein unbeschreibliches Energiefeld.
Tango heißt: Ich kann ganz für dich da sein, weil ich zugleich meine Mitte nicht verliere. Ich brauche dich nicht als Stütze, ich verliere und verbiege mich nicht für dich. Ich lade dich ein, dich in all deiner Schönheit zu entfalten in all deinen Möglichkeiten und Ideen.
Das alles ist für mich ein Schlüssel für das Paradox der Menschwerdung Gottes, die wir Weihnachten bedenken. „Wahr Mensch und wahrer Gott“, haben wir vorhin im Lied „Es ist ein Ros’ entsprungen“ gesungen, beides zugleich, nicht entweder/oder. Mit normaler Logik ist das nicht zu erklären, aber wohl mit der Erfahrung des Tango Tanzens.
Im Bild des Tanzes: Gott wird Mensch, entledigt sich aller Privilegien, ist ganz bei uns, ein Gegenüber, spürbar, nah, auf Augenhöhe. Egal wie wir uns bewegen, Gott bleibt vor uns und hält den Kreis der Umarmung, mal weiter mal enger. Gott lässt sich ganz auf uns ein, kann unseren verrücktesten Eingebungen folgen, ohne sich zu verlieren, weil Gott seine Mitte nicht verliert. Was das ist, weiß ich nicht. Ganz bestimmt nicht die ihm oft zugeschriebene Allmacht und Allwissenheit. Am ehesten vielleicht wirklich noch die Liebe, die uns als sein Gegenüber in Schönheit erstrahlen lassen will.
Und wir sind eingeladen, uns einzulassen auf den Tanz. Aber eben nach den Regeln des Tangos, die verbieten, mein Gegenüber dahin zu zerren, wo ich es gerne hätte. Beziehung, Respekt, Achtsamkeit und Unverfügbarkeit, darauf lässt Gott sich in seiner Menschwerdung ein. Gott fordert kein gehorsames Folgen, Gott lädt uns zum Tanz des Lebens ein. Ein überwältigendes Glück kann es werden für uns und die Menschen am Rande der Tanzfläche, wenn auch wir uns auf die Regeln einlassen: Beziehung, Respekt, Achtsamkeit, Unverfügbarkeit. Gott ist nicht Mensch geworden, um sich in ein dogmatisches Bild zerren zu lassen, das uns berechtigt ihn zu besitzen und anderen Menschen ihr Lebensrecht, ihre Schönheit abzusprechen.
Die Voraussetzung für das alles ist freilich, dass wir unsere Mitte wahren können.
Für das Tanzen gibt es diesbezüglich ein ziemlich klares Programm. Es erfordert viel Zeit und Geduld, aber es ist machbar.
Die Mitte unserer Seele zu wahren, ist schon ungleich schwieriger. Gerade in diesen Zeiten, in denen uns die Nachrichten aus dem Gazastreifen innerlich zerreißen, der Schmerz der Angehörigen der Hamasgeiseln und die Ahnung um das Schicksal der Soldaten in den Schützengräben an der ukrainisch-russischen Front uns das Herz zusammenpresst. In Zeiten, in denen der Wahrheitsgehalt von Nachrichten, Bildern, Filmen, Tönen und Texten kaum noch überprüfbar ist; in denen Informationen aus den sozialen Medien rasend schnell unsere Stellungnahme fordern.
Es ist auch damit ein wenig wie beim Tanzen. Es braucht regelmäßige Übung. Manche nennen es Meditation. Es beginnt mit dem ruhig werden, sich frei machen von äußeren Erwartungen, sich frei machen vom Tempo, das uns die Nachrichtenflut aufzwingt, und dann in achtsamer Offenheit zu schauen, was da gerade um mich herum und in mir ist. Meine Gedanken, meine Gefühle.
Mit der Zeit wird es wie beim Tangotraining sein, dass ich inmitten aller ablenkender Herausforderungen um mich herum ein Gespür für meine Mitte bekomme. Dann bin ich ein guter Tanzpartner für Gott und die Welt. Aus meiner Mitte heraus kann ich die nächsten Schritte wagen. Und dort, wo ich ganz handfest nichts tun kann, kann ich innerlich die Arme ausbreiten und jene umarmen, die schutzlos den Bomben ausgeliefert sind. Wenn ich in meiner Mitte bin, kann ich sogar die ganze Welt, die Pflanzen und Tiere umarmen.
Glaubt mir. Das ist kein esoterisches Gelaber. Solche Momente sind kein „Sich-Hinaus-Beamen aus der Welt“, sie sind wie Samen, aus denen Leben inmitten der Zerstörung erwächst. Es hilft der Welt mehr als unser teilweise schon hasserfüllter Streit, wer Recht hat und wer nicht und wer es doch immer schon wusste und vor Jahren gesagt hat…
Weder der Tango noch die Meditation sind Suchtmittel, die uns das grauenvolle Unheil in der Welt dauerhaft vergessen lassen wollen. Sie sind Kraftquellen, die in uns die Vision gelingender Beziehungen wach halten und in ein Engagement für das Leben führen.
Die Mitte finden und halten, das ist auch die Voraussetzung für echtes Mitgefühl statt Mitleid.
Mitleid ist eine Emotion, die uns aus unserer Mitte heraus zieht in den Schmerz der anderen. Sie hilft weder uns noch den Betroffenen.
Mitgefühl ist die Fähigkeit, ganz in Beziehung und solidarisch mit leidenden Menschen zu sein. Und dabei doch handlungsfähig und in der eigenen Mitte und Kraft zu bleiben.
Und auch das finde ich ein gutes Bild für Gottes Menschwerdung.
Früher haben wir zu Weihnachten gesagt: Mach’s wie Gott, werde Mensch!
Heute sagen wir mal: Mensch lerne tanzen, sonst wissen die Engel nichts mit dir anzufangen.
Der Spruch stammt aus einem Gedicht Augustins, das ich euch nicht vorenthalten will:
Ich lobe den Tanz
denn er befreit den Menschen
von der Schwere der Dinge
bindet den Vereinzelten
an die Gemeinschaft
Ich lobe den Tanz
der alles fordert und fördert
Gesundheit und klaren Geist
und eine beschwingte Seele
Tanz ist Verwandlung
des Raumes, der Zeit, des Menschen
der dauernd in Gefahr ist
zu zerfallen ganz Hirn
Wille oder Gefühl zu werden
Der Tanz dagegen fordert
den ganzen Menschen
der in seiner Mitte verankert ist
der nicht besessen ist
von der Begehrlichkeit
nach Menschen und Dingen
und von der Dämonie
der Verlassenheit im eigenen Ich
Der Tanz fordert
den befreiten, den schwingenden
Menschen
im Gleichgewicht aller Kräfte
Ich lobe den Tanz
O Mensch lerne tanzen,
sonst wissen die Engel
im Himmel mit dir
nichts anzufangen!
Also: Haltet die Mitte, wie Gott!