Orgel: John Cage | Souvenir
Begrüßung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Herzlich Willkommen zum Gottesdienst in der neunten Stunde des Tages, der Tradition nach die Sterbestunde Jesu am Kreuz. Wir werden Jesus heute als den leidenden Menschensohn, als den ‚Menschen schlechthin‘, betrachten. Und ich kann jetzt schon vorwegnehmen: Wir werden nachdenklich, vielleicht auch aufgekratzt und traurig aus dem Gottesdienst gehen. Und das, obwohl draußen der Frühling sein Lied singt. Auch als Jesus von Nazareth starb, war Frühling. Doch in seiner Sterbestunde verdunkelte sich die Sonne, denn alle Welt trauerte.
Ich empfehle Ihnen und Euch: besuchen Sie nach dieser Erfahrung auch einen Ostergottesdienst, damit Sie mitgenommen werden aus der Dunkelheit ins Licht, aus der Zerrissenheit in eine hoffnungsvolle Richtung.
Wir werden heute kein Abendmahl feiern, wie das in vielen evangelischen, vor allem evangelisch-reformierten Gemeinden, am Karfreitag üblich ist. Wir haben bewusst gestern, am Gründonnerstag, ein Gemeinschafts- und Erinnerungsmahl gefeiert, wie es Jesus der Tradition nach getan haben soll. Denn wir möchten den Opfergedanke beim Abendmahl an Karfreitag nicht betonen.
Jesus als Menschensohn, als Mensch schlechthin. Als solcher erlitt er Kummer, Angst, Schmerzen und Qualen. Kaum ein Komponist hat so viel Schmerz und Melancholie vertont wie Franz Schubert. Er findet Melodien für das abgrundtief Traurige. Seine eigene Krankheit und sein früher Tod sind eine tragische Vervollkommnung seines eigenen Passionsweges. Nach der Gethsemane-Lesung hören wir in Schuberts Lied von einem Mann, der in die Einsamkeit geht. In der letzten Strophe sieht er einen Wegweiser stehen, der ihm bedeutet: „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.“ In der Vertonung des Gedichts vom Leiermann kommen Verzweiflung und Elend zum Ausdruck. Gegen alle Sinnlosigkeit dreht und dreht ein Mann seine Leier. Wir hören die Solistin Sarah Weinberg, begleitet von Lea Vosgerau.
Solistin: Franz Schubert | Der Leiermann
Psalm 22, 2-9.12
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
Aber du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels.
Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.
Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.
Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk.
Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf: »Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.
Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer.
Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub.
Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.
Aber du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen!
Solistin: Antonín Dvořák | Gott, erhöre mein Gebet
Gebet
Verborgener Gott, das Kreuz des Menschensohnes ist uns vor Augen. Heute ganz besonders. Du kennst den Weg des Leidens und Sterbens. Du verzichtest auf Macht. Du solidarisierst dich mit allen, die Schwäche und Schmerzen kennen. Wir bitten dich: Eröffne uns Wege zu dir, bleib nicht fern. Sei in unserer Mitte, wenn wir heute der Trauer nicht ausweichen, sondern standhalten. Flicke uns zusammen, wenn wir zerrissen sind, damit wir Zeugen deiner Liebe werden können. Amen.
Lesung: Markus 14, 32-42
Sie hören die Erzählung von Jesus im Garten Gethsemane. Einsamkeit und Todesangst überkommen ihn. Ich lese aus dem Markusevangelium im 14. Kapitel:
Und sie kamen zu einem Garten mit Namen Gethsemane. Und er sprach zu seinen Jüngern: Setzt euch hierher, bis ich gebetet habe. Und er nahm mit sich Petrus und Jakobus und Johannes und fing an zu zittern und zu zagen und sprach zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet! Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf die Erde und betete, dass, wenn es möglich wäre, die Stunde an ihm vorüberginge, und sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst! Und er kam und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Simon, schläfst du? Vermochtest du nicht eine Stunde zu wachen? Wachet und betet, dass ihr nicht in Versuchung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. Und er ging wieder hin und betete und sprach dieselben Worte und kam wieder und fand sie schlafend; denn ihre Augen waren voller Schlaf, und sie wussten nicht, was sie ihm antworten sollten. Und er kam zum dritten Mal und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Es ist genug; die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird überantwortet in die Hände der Sünder. Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, der mich verrät, ist nahe.
Solistin: Franz Schubert | Der Wegweiser
Lesung: Markus 15, 6-39
Jesus wird verurteilt, verspottet und gekreuzigt. Ich lese aus dem Markusevangelium im 15. Kapitel:
Der Statthalter Pilatus pflegte den Jerusalemern zum Fest einen Gefangenen loszugeben, welchen sie erbaten. Es war aber einer, genannt Barabbas, gefangen mit den Aufrührern, die beim Aufruhr einen Mord begangen hatten. Und das Volk ging hinauf und bat, dass er tue, wie er ihnen zu tun pflegte. Pilatus aber antwortete ihnen: Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden losgebe? Denn er erkannte, dass ihn die Hohenpriester aus Neid überantwortet hatten. Aber die Hohenpriester wiegelten das Volk auf, dass er ihnen viel lieber den Barabbas losgebe. Pilatus aber antwortete wiederum und sprach zu ihnen: Was wollt ihr dann, dass ich tue mit dem, den ihr den König der Juden nennt? Sie schrien abermals: Kreuzige ihn! Pilatus aber sprach zu ihnen: Was hat er denn Böses getan? Aber sie schrien noch viel mehr: Kreuzige ihn! Pilatus aber wollte dem Volk Genüge tun und gab ihnen Barabbas los und ließ Jesus geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt würde. Die Soldaten aber führten ihn hinein in den Palast, das ist ins Prätorium, und riefen die ganze Kohorte zusammen und zogen ihm einen Purpurmantel an und flochten eine Dornenkrone und setzten sie ihm auf und fingen an, ihn zu grüßen: Gegrüßet seist du, der Juden König! Und sie schlugen ihn mit einem Rohr auf das Haupt und spien ihn an und fielen auf die Knie und huldigten ihm.
Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Purpurmantel aus und zogen ihm seine Kleider an. Und sie führten ihn hinaus, dass sie ihn kreuzigten. Und zwangen einen, der vorüberging, Simon von Kyrene, der vom Feld kam, den Vater des Alexander und des Rufus, dass er ihm das Kreuz trage. Und sie brachten ihn zu der Stätte Golgatha, das heißt übersetzt: Schädelstätte. Und sie gaben ihm Myrrhe im Wein zu trinken; aber er nahm’s nicht. Und sie kreuzigten ihn. Und sie teilten seine Kleider und warfen das Los darum, wer was bekommen sollte. Und es war die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten. Und es stand geschrieben, welche Schuld man ihm gab, nämlich: Der König der Juden. Und sie kreuzigten mit ihm zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken. Und die vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Ha, der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir nun selber und steig herab vom Kreuz! Desgleichen verspotteten ihn auch die Hohenpriester untereinander samt den Schriftgelehrten und sprachen: Er hat andern geholfen und kann sich selber nicht helfen. Der Christus, der König von Israel, er steige nun vom Kreuz, damit wir sehen und glauben. Und die mit ihm gekreuzigt waren, schmähten ihn auch. Und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und einige, die dabeistanden, als sie das hörten, sprachen sie: Siehe, er ruft den Elia. Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, gab ihm zu trinken und sprach: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihn herabnehme! Aber Jesus schrie laut und verschied.
Lied: O Haupt voll Blut und Wunden (EG 85, 1-3)
Predigt
Letzte Woche waren wir mit den Kindern vom Ferienprogramm hier in der Kirche und haben sie in mehreren Stationen erkundet. Eine Station war das Kruzifix von Ernst Barlach. Davor war ein kleiner Tisch aufgebaut, Papier und Stifte lagen bereit, damit die Kinder malen konnten, was sie da sahen. Aber ein Mädchen wollte die Figur mal anfassen. Also holte ich eine Leiter und ließ sie hinaufsteigen. Sie klopfte auf den Hohlkörper der Bronze-Figur und merkte dann, dass sie ganz kalt war. Dann stieg sie noch eine Stufe weiter hoch und umarmte den Jesus ganz innig. Als das die anderen Kinder sahen, wollten sie auch hoch auf die Leiter. Eins nach dem anderen stieg die Leiter hoch und umarmte die Figur. Auch das muslimische Kind legte seine Arme um den armen Jesus und wärmte ihn.
„Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ (Mt 18,3) Das sagte Jesus zu seinen Jüngern, als die über ihre Wichtigkeit wetteiferten.
Die Kinder aus unserer Feriengruppe hatten Mitleid mit Jesus. Sie wussten, dass ihm Gewalt angetan worden war und er leiden musste. Sie spürten, dass das nicht richtig war.
Vielleicht ist damit schon alles gesagt. Aber ich habe mir viele Gedanken gemacht und in der Vorbereitung nochmal Bücher zur Karfreitagstheologie gelesen, zu den Deutungen des Todes Jesu. Besonders prägend war da ein Buch von Manfred Köhnlein: Passion und Auferstehung Jesu.
Bisher habe ich immer gesagt, dass die ganze christliche Botschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht, wenn wir Jesus nicht als den Christus, den Messias und Sohn Gottes anerkennen, wenn wir sein Leiden und Sterben nicht als einmalig und letztgültig verstehen, als sterben „für uns“. Denn was ist dann Erlösung und Versöhnung? Was ist Ostern? Was wurde dann grundlegend anders mit Jesus von Nazareth? Ich werde darauf heute keine Antwort geben. Heute, an Karfreitag, will ich es wagen und Jesus entgegen der Deutung der nachösterlichen Überlieferung als ‚Menschensohn‘ ins Zentrum rücken, verstanden als ‚Mensch schlechthin‘, als exemplarischen Menschen. An ihm und dem, was ihm widerfuhr, werden die Dimensionen des Menschseins sichtbar. Geborenwerden und Sterben und alles, was dazwischen passiert. Treue und Verrat, Gemeinschaft und Einsamkeit, Hass und Versöhnung, Hochmut und Demut, Stärke und Schwäche, fallen und wieder aufstehen. Dimensionen des Menschseins. In den biblischen Passionsgeschichten verdichten sich dann im Besonderen menschliche Leidenserfahrungen in ihrem ganzen Ausmaß.
Wir haben es vorhin in den Lesungen gehört. Jesus sagte in Gethsemane: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.“ Der Menschensohn hatte Todesangst, er stürzte ins Bodenlose und fühlte sich von jedermann abgetrennt, er flehte Gott an, dass der Kelch an ihm vorbeigehen möge. Aber er musste durch den Tunnel der Verzweiflung hindurch, allein. Es folgte der Verrat durch einen Freund, die anderen Freunde ließen ihn im Stich und flohen, Petrus verleugnete ihn, bei der Kreuzigung guckten sie nur aus der Ferne zu oder waren längst über alle Berge. Diese existenzielle Einsamkeit beschreibt auch der Wanderer im vorhin gehörten Lied aus Schuberts Winterreise.
Jesus erlitt außerdem die Angst vor dem Ausgeliefertsein und den ihm entgegenspringenden Hass der Menge nach dem Verhör. Von den Anklägern wurde er verspottet und bespuckt, geschlagen, entblößt und gefoltert. Zuletzt fühlte er sich nicht nur von den Menschen, sondern auch von Gott verlassen. Bevor er starb, schrie er mit Worten des 22. Psalms: „Mein Gott, mein Gott. Warum hast du mich verlassen?“
Jesus durchlitt in seinen letzten Tagen und Stunden psychischen Kummer, soziale Vereinsamung, körperlichen Schmerz und religiöse Anfechtung. Seit seinem Einzug in Jerusalem und auch bei seiner Verurteilung litt Jesus in noch einer weiteren Dimension. Er war verzweifelt, wütend und bitter enttäuscht über die scheinbar unverrückbaren sozialen und religiösen Verhältnisse, über das Missverständnis seiner Person und seines Auftrags. Deshalb vertrieb er wütend die Händler aus dem Tempelvorhof, verfluchte den Feigenbaum als Sinnbild des vertrockneten Glaubens Israels, versuchte in Streitgesprächen mit den Gelehrten Gehör zu finden, verzweifelte an der Herzenshärte und Sturheit der religiösen Elite, schwieg bei seiner Anklage. Er litt an geistiger Enttäuschung. Als er zum Passafest nach Jerusalem kam, weinte über die Stadt Gottes und sagte: „Wenn doch auch du, (Jerusalem), erkenntest, was zum Frieden dient.“ (Lk 19, 42)
Zum Menschsein gehört das Leiden. Denn schon vor der Geburt, in der Enge des Geburtskanals, stellen wir fest: Wir müssen das All-Eine, die totale Geborgenheit verlassen, um Mensch zu werden. Es gibt Grenzen, Engpässe, Dunkelheit und Kälte. Jeder Mensch erleidet Formen von Einsamkeit, von Verlassensängsten, von bitterer Enttäuschung. Viele von uns wissen, was es heißt, gedemütigt oder verachtet zu werden. Irgendwann im Jugendalter beginnt die existenzielle Frage nach Gott, nach dem Sinn des Lebens und dem Leiden an der scheinbaren Sinnlosigkeit. All das kommt wieder und wieder. Was Jesus in dramatischer Form erlitten hat, das kennen wir alle.
Mitten in unserer Schaffenskraft werden wir oft überrumpelt von dem Schmerz über die Sturheit und Starrheit der geistigen und sozialen Verhältnisse. Man will etwas verändern, an einer kleinen Stelle für eine bessere Welt kämpfen, für mehr Würde in Krankenhäusern, für eine Schule, die Spaß macht und bildet, für eine Kirche, die den Menschen dient, für ein Land, das sich aus erneuerbaren Energien speist, für einen Frieden ohne Waffen. Aber man erlebt Rückschlag um Rückschlag. Die Beharrenden gewinnen. So scheint es. So müssen wir es heute ertragen. An Ostern kommt dann der große Widerstand. „Nein!“, sagt die Auferstehungsbotschaft. Die Mächtigen werden nicht das letzte Wort behalten! Veränderung folgt auf Durststrecken und Wüstenwanderungen, ja, auf Leidenswege.
Geburt und Sterben und alles dazwischen: Veränderungen schmerzen. Jesus wollte Veränderung, er wollte den Menschen eine neue Beziehung zu Gott erschließen und zeigen, dass daraus Frieden entsteht, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat, der Schalom Gottes. Er wollte Gerechtigkeit für die Armen und Unterdrückten und klagte die Mächtigen an. Er brach Tabus, und blieb seiner Botschaft treu bis zum bitteren Ende. Er ließ sich nicht bestimmen von der Angst vor dem Leid, wich nicht aus und starb.
Die Kinder aus dem Ferienprogramm empfanden Mitleid mit Jesus. Sie wollten ihn trösten. Sie fragten nicht, wer schuld sei an Jesu Tod.
Vielleicht ist das eine Erwachsenenfrage, eine bereits entfremdete Frage. Aber die biblische Antwort auf die Schuldfrage hatte fatale Folgen für Jahrtausende, bis heute. Ich will sie deshalb erwähnen: Die nachösterlichen Christen und mit ihnen die Verfasser der Evangelien und Briefe waren in schwere Auseinandersetzung geraten mit der jüdischen Bevölkerung. Die Urchristen hatten sich von den Juden abgespalten und sich zu Gemeinden in den umliegenden römischen Provinzen zusammengefunden. Christen waren Verfolgungen und Steinigungen ausgesetzt, wurden der Gotteslästerung bezichtigt und aus den Synagogen geworfen. Als im Jahr 70 n. Christus Jerusalem samt Tempel von den Römern auf grausamste Weise zerstört wurde und Tausende starben, da hielten die Christen das für eine gerechte Strafe. So kam es, dass in beinahe allen Büchern des Neuen Testaments schwere Anschuldigungen gegen die jüdische Mutterreligion und ihre Vertreter geäußert werden. Die Juden hätten Jesus Christus verkannt und dann ermordet. Judas wurde zum Verräter, zum Gottesmörder, Pilatus als Vertreter der römischen Macht, wusch sich die Hände in Unschuld. Aus dem biblischen Antijudaismus folgte unmittelbar der christliche Antisemitismus bis hin zum Holocaust. Diese Schuld kann kein Gekreuzigter sühnen. Sie bleibt uns aufgebeben.
Dabei hätte doch die Kreuzigung des Menschensohnes für alle Zeit zu einem Mahnmal werden sollen:
Nie wieder sollen Menschen grausam hingerichtet werden.
Nie wieder soll jemand stellvertretend für andere sterben müssen.
Niemand hat das Recht, Mitmenschen Leid zuzufügen.
Wenn ich mir ein Kreuz umhänge, dann sage ich damit auch: „Ich kenne menschliches Leid und weiche ihm nicht aus. Wie die Kinder am Barlach-Kreuz tröste ich den, der Schmerzen hat, empöre mich über Ungerechtigkeit – und Erniedrigung lässt mich nicht kalt. Ich weiß, dass Veränderungen weh tun. Aber wenn ich in der Nachfolge Jesu für Menschenliebe, für Frieden und Gerechtigkeit eintrete, dann bin ich auch bereit, Leid zu ertragen, Leid auch angesichts der Welt, wie sie ist. Was mir dabei hilft, ist die im Neuen Testament begründete Gottesbeziehung. Ein Gott, der mich in meiner Schwäche berührt, der mitfühlt, im Verborgenen mitleidet.“
Beim Mitfühlen und Mitleiden kommt mir eine Strophe aus dem Lied von Paul Gerhardt, „O Haupt voll Blut und Wunden“, in den Sinn. Obwohl mir die theologischen Aussagen des Liedes fremd sind, singen wir heute daraus. Denn Menschen haben es über Jahrhunderte als Trost in schwerem Leid gesungen, besonders an Karfreitag. Paul Gerhardt selbst hat im Dreißigjährigen Krieg und dessen Folgen seine Eltern, Angehörige und Freunde verloren. Seine Schmerzen und Sorgen und die von Generationen nach ihm suchten hier Halt und Widerhall. Das wollen wir nicht vergessen.
Es ist die sechste Strophe, die ich meine. In kindlicher Unbekümmertheit haben die Kinder auf der Leiter das wohl auch gespürt: „Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht; von dir will ich nicht gehen, wenn dir dein Herze bricht, wenn dein Haupt wird erblassen, im letzten Todesstoß, alsdann will ich dich fassen, in meinen Arm und Schoß.“
Amen.
Lied: O Haupt voll Blut und Wunden (EG 85, 5-6.9-10)
Fürbitten mit Zwischengesang
Nie wieder sollen Menschen grausam hingerichtet werden. Jesus ist unschuldig zum Tod verurteilt worden. Alle, die das sahen, wussten es. Es hätte nie wieder so weit kommen sollen. Aber Gott, es folgten tausende, millionen von weiteren unschuldigen Hinrichtungen. Bis heute. Wir verfolgen es im Iran, in Afghanistan und anderswo. Oft wissen wir nichts davon, weil die Tat nicht öffentlich wird. Befreie uns aus der Angst vor dem Leidenmüssen, damit wir hinsehen und handeln, damit deine Menschenliebe sich ausbreitet in dieser Welt. Auf dich hoffen wir und singen:
Niemand hat das Recht, Mitmenschen Leid zuzufügen. Warum Gott, quälen wir einander? Das beginnt schon im Schulhof beim Mobbing, bei Erniedrigungen wegen Herkunft, Religion oder Geschlecht. Paare, die sich trennen, tun einander weh, bleiben manchmal unversöhnt bis in den Tod. Es gibt Erwachsene, die Kinder missbrauchen und andere, die das vertuschen. Ahnungslose Hilfesuchende werden zu Opfern von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Es gibt Herrscher, die junge Männer und Frauen auf dem Schlachtfeld in den Tod schicken. Lass uns nicht teilnahmslos zusehen. Niemand hat das Recht, Mitmenschen Leid zuzufügen. Schenke uns die Gabe des Mitfühlens, damit wir in Bewegung gesetzt werden. Auf dich hoffen wir und singen:
Leiden macht einsam. Ich denke an die Kranken und Sterbenden. Niemand kann sich wirklich in sie hineinversetzen. Am Ende müssen wir alleine sterben, den Weg gehen, den noch niemand ging zurück. Verbirg dich doch nicht, wenn wir dich am meisten brauchen, Gott der Liebe, Gott des Mitgefühls. Sei nicht ferne von uns, wenn die Angst nahe ist. Auf dich hoffen wir und singen:
Veränderungen tun weh, manchmal körperlich, oft auch seelisch. Vom Mutterleib ins nackte Leben, von dem kindlichen Glauben, alles sei für mich bestimmt, hin zur Erfahrung von Grenzen, von Mangel und Gefahren. Veränderungen tun weh. Vom sicheren Glauben, das richtige zu tun, hin zur Erkenntnis, dass ich mich wandeln muss. Von der Idee, dass einem Besitz und Luxus zustehen, hin zu der Einsicht, dass das ungerecht ist oder jedenfalls nicht solidarisch. Veränderungen tun weh. Aber in der Nachfolge Jesu sehen wir, dass diese Schmerzen zum Menschsein dazugehören. Barmherziger Gott, verwandle unsere Trauer in Freude, immer wieder neu. Dann können wir Veränderungen nicht nur geschehen lassen, sondern sie mit deiner unbändigen Liebe gestalten. Auf dich hoffen wir und singen:
Vaterunser
Lied: Holz auf Jesu Schulter (EG 97)
Bekanntgaben
Die Kollekte am Ausgang ist heute bestimmt für eine Beratungsstelle des Vereins für Innere Mission. Betroffene von Menschenhandel und Zwangsprostitution finden hier eine Anlaufstelle. Seit ihrer Gründung vor zwanzig Jahren begegnet die Einrichtung dem Phänomen der „modernen Sklaverei“ in all ihren abgründigen Facetten. Dabei werden die Rechte des Menschen zutiefst verletzt. Während der Ausbeutung leiden viele Betroffene seelisch und körperlich an den desaströsen Lebensbedingungen. Viele Betroffene sind traumatisiert und für ihr Leben geprägt. Mit Ihrer Spende helfen Sie, fachliche und fürsorgliche Hilfe für diese Menschen aufrecht zu erhalten. Wir danken für Ihre Unterstützung.
Segen
Orgel: Josef Rheinberger | O Haupt voll Blut und Wunden