Der Herr ist mein Hirte | Esther Joas

von | 23. April 2023

Orgelmusik

Begrüßung

Lied: Himmel, Erde, Luft und Meer

Psalm 23  

Kyrie-Lied: Meine engen Grenzen

Gebet

Gloria-Kanon: Lobe den Herrn meine Seele

Lesung: Johannes 10,11-16

Lied: Der Herr ist mein getreuer Hirt  

Predigt

Psalm 23 wird erneut rezitiert.

Der Lyriker Rainer Maria Rilke warnte vor dem Analysieren und Definieren, vor dem Verstehen-Wollen aller Dinge. Er schrieb dazu folgende Worte:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort.  Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott. Sie wissen alles, was wird und war; Kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;Ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.  Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dingen singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Aber können wir verstehen, wenn wir die Dinge nicht antasten? Wenn wir Bilder und ihre Bedeutung nicht hinterfragen, wenn wir uns nicht positionieren?  Ich wage es und taste dieses Psalmwort an, das Trostbild des guten Hirten. Vielleicht singen die Worte danach wieder heller und klarer. Vielleicht scheppert es ein bisschen.

Liebe Gemeinde, wann bin ich Hirte, wann bin ich Schaf? Wann versorge ich? Wann werde ich versorgt? Wann suche ich, wann werde ich gefunden?

Sie hören die Geschichte eines Schafs. Ich bin dieses Schaf und erzähle Ihnen, was ich gestern erlebt habe:

Satt vom saftigen Gras lag ich zusammen mit den anderen Schafen auf einer grünen Wiese. Der Hirte hatte unsere Herde morgens an einem Gebirgsbach trinken lassen. Er kannte sich gut aus und wusste genau, auf welchen Weg er uns treiben muss, damit wir sicher auf die Weide kommen. Ich war versorgt und fühlte mich wohl. Mein Hirte ist ein guter Hirte. Er kennt uns. Es fehlt uns an nichts. Dann war es Nacht geworden, ein Feuer flackerte ganz in meiner Nähe. Auf einmal hörte ich ein Knacken im Gebüsch, mein Hirte hörte es auch und sprang auf. Er weckte seinen Gehilfen und beide witterten Gefahr. Ich konnte ihre Angst riechen. Ich blickte auf und sah, wie mein Hirte den Stab zur Abwehr in die Hand nahm, der Gehilfe hatte einen Dolch in der Hand. Ein hungriges Wolfsrudel würde auch vor ihnen nicht Halt machen, das wussten sie. Die beiden stellten sich Rücken an Rücken. Ich beobachtete angespannt, was sich da im Gebüsch tat. Auf einmal sah ich sie aufleuchten, die Wolfsaugen. Ich hörte ein Knurren und das Fletschen der Zähne. Jetzt wurde ich unruhig, weckte meine Schafsfreunde, wir blökten und stellten uns eng aneinander. Uns war noch nie etwas zugestoßen. Immer hatte uns der Hirte behütet. Wenn eines von uns sich verirrt hatte oder irgendwo hängengeblieben war, fand uns der Hirte und rettete uns. Würde er es auch dieses Mal schaffen? Plötzlich stürzte sich das Wolfsrudel auf uns. Der Hirtenhund begann zu bellen, versuchte, die Wölfe fernzuhalten. Der Leitwolf biss eines der Lämmer, riss es aus der Herde. Mein Hirte kam zur Hilfe, schlug mit seinem Stab auf den Wolf ein, bis er das Lamm fallen ließ. Doch jetzt waren die Wölfe in Rage. Zu dritt überfielen sie meinen Hirten, er kam ins Wanken, stürzte. Aus dem Augenwinkel sah ich den Gehilfen. Er rannte fort, floh, ließ uns im Stich. Ein Wolf biss meinem Hirten ins Bein, er blutete. Die Wölfe knurrten, fletschten, rissen an ihm. Ich konnte das nicht länger mit ansehen. Ich blökte, rief alle meine Schafsfreunde zusammen und gemeinsam rannten wir auf die Wölfe zu. Der Hund fand neuen Mut, kam zur Hilfe, fletschte nun auch seine Zähne und sprang den Leitwolf an. Der ließ vor Schreck ab von meinem Hirten. Wir stellten uns über den Verletzten, die ganze Herde bildete einen Haufen, in dessen Mitte der Hirte lag, regungslos. Der Hund griff weiter an und schaffte es, die Wölfe in die Flucht zu schlagen. Wir waren gerettet. Aber der Hirte bewegte sich nicht, keuchte nur leise und wimmerte. Sein Gehilfe war geflohen, über alle Berge. Was sollten wir tun? „Er hat uns geholfen, jetzt helfen wir ihm“, gab ich meinen Schafsfreunden zu verstehen. Irgendwie schafften wir es, mithilfe des Hundes, den Hirten auf meinen Rücken zu zerren. Er war schwer, sehr schwer. Es war noch immer Nacht. Ich schleppte mich voran, irgendwann übernahm ein anderes Schaf. Wir liefen durch ein finsteres Tal. Aber wir hatten keine Angst. Wir hatten ein Ziel und das gab uns Mut: unseren Hirten retten. Wir mussten ihn zu den Menschen bringen! Als der Morgen anbrach, waren wir bei einem Dorf angekommen. Wir legten unseren Hirten neben den Brunnen und trabten auf eine nahegelegene Weide. Der Hund bellte, bis ein Mensch kam und unseren Hirten dort liegen sah. Aus der Ferne konnte ich sehen, wie weitere kamen, ihm zu trinken gaben und ihn in ein Haus trugen. Hier wird er versorgt werden. Hier wird es ihm an nichts fehlen. Er war gerettet.

Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens will. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.

Liebe Gemeinde, wann bin ich Hirte, wann bin ich Schaf? Wann versorge ich? Wann werde ich versorgt? Wann suche ich, wann werde ich gefunden?

Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe (Joh 10). Das gute Schaf rettet seinen Hirten. Denn es ist geliebt, versorgt, behütet. Und deshalb liebt es seinen Hirten und lässt ihn nicht im Stich.

Seit Jahrtausenden beten Menschen mit den Worten des 23. Psalms. Ein Vertrauenspsalm, voller Bilder der Fülle, der Freude, der inneren Kraft. Ein Psalm, der vom Leben weiß, von finsteren Tälern und wie man da wieder herauskommt. Ein Psalm, der die Geborgenheit in Gottes Obhut besingt.

Ich kenne persönlich keinen Hirten und nur selten sehe ich Schafe. Auf den Weiden ist dann aber weit und breit kein Hirte zu sehen. Ihnen wird es vermutlich ähnlich gehen. Trotzdem verstehen wir die Metapher, dieses archaische Bild: das Behütet- und Versorgt-Sein. „Mir wird nichts mangeln.“ Das drückt keinen Zustand aus, sondern es ist eine Glaubensaussage. Weil Gott der Hirte ist, wird mir nichts mangeln.

Der religiöse Mensch weiß um sein Angewiesensein, um seine „engen Grenzen“, um seine Bedürftigkeit und in diesem Sinn um sein „Schaf-Sein“. Er weiß auch um die Diskrepanz zwischen dem Erlebten und dem Geglaubten, zwischen erlebtem Mangel und geglaubter Fülle. „Bei Gott, im Heiligsten, im Hause des Herrn, da wird mir nichts mangeln, da bleibe ich. Ich fürchte kein Unglück, denn Gott ist bei mir.“ Das hat Gott  schon dem Hirten Mose beim brennenden Dornbusch zugesagt, mit demselben hebräischen Wort: „Sei gewiss, ich werde bei dir sein.“

Aber kann auch Gott gerettet werden, der gute Hirte? Das ist ein ketzerischer Gedanke. Denn Gott als Schöpferkraft und Seiendes schlechthin kann ja nicht abhängig sein vom Menschen. Oder doch?

Retten wir nicht Gott, wann immer wir uns als Glaubende seiner Schöpfung zuwenden, das Verlorene suchen, Sorgende werden? Retten wir nicht Gott, wenn wir den Fremden aufnehmen, den Nackten kleiden, den Kranken pflegen und den Gefangenen besuchen? „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan (Mt 25,40)“, sagte Jesus als Gottes Sohn, als guter Hirte.

Die Bibel selbst spielt mit dem Hirtenmotiv. Der Prophet Mose, König Saul und König David waren zuvor Hirten. Stecken und Stab sind nicht nur Hirten-, sondern auch Herrschaftssymbole. Der Krummstab war schon bei den Pharaonen das Königszepter. So kann das Hirtenmotiv im zweiten Teil des 23. Psalms auch vom Motiv des königlichen Gastgebers abgelöst werden, der Fremde aufnimmt und seinen Gästen voll einschenkt.

Im zweiten Petrusbrief im Neuen Testament werden die Ältesten der Gemeinden aufgerufen, selbst Hirten zu sein, die ihre Schafe weiden. Sie sind dann quasi Hirten des Erzhirten im Himmel.  Sie werden selbst zu Rettenden. Schafe werden zu Hirten und Hirte zu Schafen. Sie laufen nicht fort wie der Gehilfe in der Geschichte, wie der Mietling im Evangelium nach Johannes.

Doch nirgends in der Bibel wird der Hirte von Schafen gerettet. Auf diese Idee brachte mich Leonie Swanns Kriminalroman Glennkill. Aber warum nicht?

Wenn wir nun in diesem Bild als Schafe zu Rettern werden, dann tun wir das aus der Kraft Gottes heraus. Als Dankbare, Versorgte, ins Leben Gerufene werden wir zu Akteuren und Gestaltern, zu Findenden und Rettenden. Wir werden gesehen und erkannt und als solche zu Erkennenden und Sehenden. 

Aber als Schafe Gottes wissen wir um die Grenzen des Machbaren, um die Weltlichkeit der Welt. Wir wissen, dass Vollkommenheit, die grüne Aue und das frische Wasser, die Freiheit von Angst und das Haus des Herrn in dieser Welt nur als Funken, nur bruchstückhaft zu erfahren sind. „Mir wird nichts mangeln“, dieser Satz verbindet uns mit der Ewigkeit, mit einem Ort nicht von dieser Welt. Amen.

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Segen

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