Von der Grundmelodie des Lebens

von | 18. September 2022

Predigt zu Jesaja 12

Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, Herr! Du bist zornig gewesen über mich. Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest. Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil. Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils. Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem Herrn, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist! Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir! (Jes. 12)

Ein Psalm aus dem Prophetenbuch Jesajas im Alten Testament. Ich hole weit aus und komme erst später wieder auf diesen Dank-Hymnus zu sprechen. Er steht nämlich im Kontext einer geschichtlichen Situation, in der das ‚Heil‘ und die ‚Herrlichkeit Gottes‘ weit entfernt schienen.

Der Prophet Jesaja lebte als Sozialkritiker und wohl auch königlicher Berater in Jerusalem. Er wirkte während der Regentschaft vierer Könige in den Jahren 740 bis 701 vor Christus.

Ich war letzte Woche im Pergamon-Museum in Berlin und da ist mir wieder klar geworden, dass die alten Königreiche Israel im Norden mit der Hauptstadt Samaria und Juda im Süden mit der Hauptstadt Jerusalem ein Klecks in der Geschichte des Vorderen Orients waren. In dem Museum der antiken vorderasiatischen Kultur finden sie kaum Erwähnung. Da sind Stelen der mächtigen Könige aus Akkad, Babylon und Assur aufgestellt. Man läuft durch die rekonstruierte Prozessionsstraße von Babylon und das leuchtend blaue Ischtar-Tor prangt dort in voller Größe.

Die zumeist miteinander verstrittenen Kleinreiche Israel und Juda waren das Aufmarschgebiet der jeweiligen Machtzentren, der Ägypter, Assyrer und Babylonier, manchmal auch der Philister und Aramäer. Ihre Lage an der Hauptverkehrsstraße zwischen Ägypten und Kleinasien machte sie zum Spielball der Großmächte. Nur selten konnten sie ihre erkämpfte Unabhängigkeit lange bewahren. Sie waren Vasallen, nach einer Niederlage wurden in der Regel Tausende Menschen deportiert.

Durch Ausgrabungen können wir zahlreiche Könige und Schlachten, die in der Bibel erwähnt werden, historisch einordnen. 853 v. Chr. zum Beispiel kämpfte König Ahab von Israel laut einer assyrischen Sieger-Inschrift mit 2000 Streitwagen und 10 000 Soldaten in einem Bündnis gegen die Großmacht aus Assur. Bei den dokumentierten Zahlen dürfte der assyrische König Salmanassar III ordentlich übertrieben haben; es sollte nach einem noch größeren Erfolg aussehen. Es folgten grausame Aramäer- und Philisterkriege. An diese traumatischen Erfahrungen erinnert der Prophet Jesaja noch eine Generation später. Er schreibt: „Da machte Jahwe seine Widersacher groß, und seine Feinde stachelte er auf: die Aramäer von Osten und die Philister von Westen, die fraßen mit vollem Maul“ (Jes 9,10f). Nach Jahrzehnten von Kriegen, immer nur kurz von Frieden und Wohlstand unterbrochen, ging das Nordreich Israel im Jahr 722 vollständig unter. Juda bestand noch rund 130 Jahre, bevor es dem Großreich Babylon zum Opfer fiel. Jesaja sieht das voraus. Folgende Worte finden sich im Prophetenbuch: „Heule, Tor! Schreie, Stadt! Erzittere, Philistäa! Denn von Norden kommt eine Rauchwolke, und niemand zählt ihre Scharen“ (Jes 14,31). Im 31. Kapitel lesen wir Jesajas Mahnung zur politischen Neutralität: „Wehe! Die nach Ägypten um Hilfe hinabziehen, sich auf Rosse verlassen!“ (Jes 31,1). Der König hörte jedoch nicht auf den Rat Jesajas und im Jahr 701 schlug der mächtige Sanherib zu; nur Jerusalem als Stadtstaat konnte sich behaupten. Jesaja schreibt: „Euer Land ist eine Wüste, eure Städte im Feuer verbrannt, euren Acker vor euch verzehrten Fremde. Nur die Tochter Zion ist übriggeblieben wie eine Hütte im Weinberg und wie eine Nachthütte im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt“ (Jes 1,7f.). Es ist eine bedrohliche Situation, in der Jesaja wirkte und den Jahwe-Glauben verkündete.

Professor Eckart Otto prägte uns Erstsemestlern damals den Satz ein: „Nicht in geographischen Machtzentren, sondern in geographischen Leidenszentren entsteht Religion. Religion entwickelt sich in der Diskrepanz zwischen erlebtem Leid und ersehntem Heil.“

Die Bibel beschreibt das echte Leben, Grunderfahrungen von Scham und Schuld, von Neid und Hass, von Hochmut und Stolz. Sie kennt die Sorge der Kinderlosigkeit und Familienstreit genauso wie das Leid von Schlachten und Kriegen. Hier werden Erfahrungen verarbeitet, die Menschen vor langer Zeit tatsächlich gemacht haben. 

Allein ist die Bibel nie eine historische Quelle, aber sobald unterschiedliche Quellen übereinstimmen, reden Historiker*innen von Plausibilität, von wahrscheinlicher Echtheit der Geschehnisse: In Jesaja 1-39 finden wir Quellen eines politisch einflussreichen Mannes, der sich Jesaja nennt und Prophet. Mit Bildern von Hurerei und Naturkatastrophen („Grollen des Meeres im Sturm“ und „bedrückende Finsternis“) beschreibt er die politische Lage. Der Prophet deutet das erfahrene Leid, Zerstörung und Deportation als Strafe Gottes über den Ungehorsam und Unglauben der Menschen. Er schreibt: “Glaubt Ihr nicht, so bleibt Ihr nicht” (Jes 7,9), ein Spruch Jesajas, der mit der doppelten Bedeutung des Verbs אמן spielt: In der einen Form bedeutet es ‚vertrauensvoll sein‘, in der anderen: ‚bleiben/Bestand haben‘: Glaubt Ihr nicht, so bleibt Ihr nicht.

Überlieferungen wie die des Propheten Jesaja sind zur Heiligen Schrift geworden, nicht weil sie die vorderasiatische Eroberungsgeschichte so gut wiedergeben, sondern weil sie Menschen über Generationen und Generationen Trost und Hoffnung und neuen Mut gegeben haben.

Denn inmitten der Verse über Krieg und Verlust – es könnte genauso gut der heutige Syrienkrieg sein oder der Krieg in der Ukraine – lesen wir bei Jesaja zum Beispiel die Heilsankündigung eines Messias: „Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel, Gott mit uns“ (Jes 7,14). Womöglich später entstanden sind diese Hoffnungs-Worte: „Jetzt verbirgt der Herr sein Angesicht vor den Nachkommen Jakobs. Aber ich will auf ihn warten und meine Hoffnung auf ihn setzen. Seht her, hier bin ich mit den Kindern, die der Herr mir gegeben hat. Wir sind lebendige Zeichen und Warnungen für Israel“ (Jes 8, 17f.). Auch folgender Vers ist inmitten der politischen Prophezeiung zu lesen: „Das Volk, das in der Finsternis lebt, hat ein großes Licht gesehen. Es scheint hell über denen, die im düsteren Land wohnen. Gott, du lässt sie laut jubeln, du schenkst ihnen große Freude. Sie freuen sich vor dir, wie man sich bei der Ernte freut“ (Jes 9,1f.). Und zuletzt auch dieser Satz: „Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen“ (Jes 11,1): Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart. Im nächsten Kapitel folgt dann dieses Danklied aus einer Zeit, in der vermutlich nicht viel zu danken war:

Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil. Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils. (Jes 12)

Der Babylonische Talmud berichtet, wie dieser Psalm von Pilgern auf dem Höhepunkt des Jerusalemer Laubhüttenfests gesungen wurde. Bis heute wird Sukkot, das Laubhüttenfest als Erinnerungs- und Erntefest in Israel gefeiert. Die Feiernden folgen der Weisung der Tora: „Sieben Tage sollt ihr fröhlich sein!“ (3. Mose 23,40) Rituelles Zentrum der Feier war historisch die Wasserprozession. Es muss voller Glanz und Feierlichkeit gewesen sein. Der Talmud schreibt: “Es gab keinen Hof in Jerusalem, der nicht vom Lichte der Wasserprozession bestrahlt worden wäre”. Und weiter heißt es: „Wer die Lustbarkeit bei der Wasserprozession nicht gesehen hat, hat im Leben keine Lustbarkeit gesehen.” Die Schönheit der Prozession und die Freude über den Brunnen des Heils waren groß; vermutlich auch in Zeiten, in denen es wenig Grund zur Freude gab.

Auf diesen Psalm und das Pilgerfest spielt wohl auch folgende Worte Jesu an: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen.“ (Joh 7, 37f.)

Ich habe Sie eingangs gefragt, welche Zukunft Sie erwarten, worauf Sie hoffen, welche Grundmelodie bei ihnen schwingt. Die Theologin Ulrike Wagner-Rau schreibt dazu: „Was kommen wird, steht dahin. Nicht zweifelhaft aber ist, dass die Erde Menschen braucht, die über das Jetzt hinauszuschauen verstehen, die die Vergangenheit und ihre Geschichten nicht vergessen; denen die Zukunft und ihre Menschen nicht gleichgültig sind; die wahrnehmen, wo das Leben nicht ist, wie es sein soll, und die davon singen, wie Gott das Leben meint und will.“

Gott danken für erfahrenes Heil und die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Güte als Grundmelodie des Lebens anstimmen, trotz erfahrenem Leid, das lässt uns zu Strömen lebendigen Wassers werden. Amen. 

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