Zwischen Ohnmacht und Zorn

von | 08. März 2022

Predigt von Uli Bandt am 06. März 2022

„Aus der Tiefe rufe ich zu dir, Gott…“

„Warum hast du mich verlassen?“

„Rette mich doch! Sie zerfleischen mich wie ein Löwe seine Beute!“

„Greif ein, HERR, und strafe sie in deinem Zorn! Stelle dich meinen Feinden entgegen, die so unerbittlich gegen mich wüten!“

Worte aus den Psalmen. Oft in ihrer hilflosen Wut so emotional, dass wir manche Zeile lieber auslassen.

Doch jetzt leihen wir uns mitunter auch von diesen bisher zensierten Versen die Sprache, um unserer Fassungslosigkeit, totalen Verunsicherung, der Ohnmacht und unserem Zorn Ausdruck zu geben.

Keiner von uns hätte vor Monaten geahnt, dass wir so wahnsinnig schnell am Rande eines Weltkrieges stehen könnten. Eines neuerlichen Krieges mitten in Europa, der zahllosen unschuldigen Menschen unendliches Leid zufügt. Der die Bemühungen um gemeinsame Sicherheit, Verständigung und Frieden, Klimaschutz und demokratische Teilhabe um Jahrzehnte zurückwirft.

Es ist nicht mehr die Zeit, differenziert über die Geschichte des Konflikts in allen Feinheiten zu reden. Nicht über die Siegermentalität des Westens gegenüber dem Osten mit seinem gescheiterten Staatssozialismus noch über fragwürdige Militärstrategien der Nato. Putin selber hat mit seiner unglaublich zynischen Eskalation der Gewalt, verbunden mit der Drohung Atomwaffen einzusetzen, die Welt herausgefordert zu einer weitgehend einheitlichen nichtmilitärischen, und potentiell leider auch militärischen, Reaktion.

Und wir sind Teil eines Prozesses, der plötzlich nur noch zwischen Gut und Böse, zwischen Aggressoren und Opfern, zwischen Schwarz oder Weiß unterscheidet. Es muss jetzt schnell und klar und eindeutig entschieden werden.

Jesu Friedenszeugnis der Feindesliebe und Gewaltlosigkeit erscheint vor diesem Handlungsdruck als nicht realitätstauglich. Ist das nun der klassische Fall eines „Gerechten Krieges“, wie ihn die alten Kirchenväter schon vor Jahrhunderten erdachten?

Was ist denn unsere Aufgabe als Christen, als Rembertianer, in diesen Wochen?

Zunächst einmal denke ich, wir sollten den Wahrheiten jenseits von Schwarz und Weiß die Tür offen halten.

Das fängt mit unserer Sprache an. Es sind nicht die Russen, die den Krieg in der Ukraine führen. Es gibt nicht die Russen. So wenig wie es die Chinesen, die Deutschen, die Amerikaner oder die Ukrainer gibt. Jedenfalls nicht als Charaktermerkmal hinsichtlich einheitlicher politischer, moralischer oder sonstwelcher Eigenschaften.

Wir können sensibel darauf achten, nicht pauschalisierenden Klischees auf den Leim zu gehen. Der Krieg gegen die Ukraine wurde auch so vorbereitet: Dass ein ganzes Volk zu Nazis und Russenhassern abgestempelt wurde. Zu Feinden eben, die kein Existenzrecht haben. Wir sehen mit Entsetzen, wie dieser Hass barbarische Grausamkeiten rechtfertigen kann. – Aber wir sollten nicht wähnen, dass nicht auch wir von einer ähnlichen Ideologisierung befallen werden könnten. „Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, aber nicht den Balken in deinem Auge.“, sagt Jesus.

Wir sollten den Mut haben Position zu beziehen. An Demonstrationen teilzunehmen, um zu zeigen, dass wir viele sind, die mit ihren beschränkten Mitteln, trotz aller Ohnmacht gegen Putins Krieg protestieren. Wir sollten auch den Mund aufmachen, wenn Nationalisten aller möglicher Länder in unserer Gegenwart Putin vergöttern.

– Aber wir sollten auch lernen zu differenzieren und zuzuhören, wenn da Menschen sind, die unter der Brutalität des Krieges leiden, aber schon lange darauf hingewiesen haben, dass wir hier in Westeuropa eine einseitige Sicht der Geschichte haben, die der Vielfalt von Erfahrungen und Empfindungen in den ehemaligen Ostblockstaaten in keiner Weise gerecht werden. Unter ihnen sind mögliche Brückenbauer für die Zukunft.

Wir müssen diesen Spagat üben: Nicht nur zu Position beziehen, sondern auch im richtigen Moment still sein und zuhören!

Wir müssen diesen Spagat üben: Einerseits unserer Regierung nicht in den Rücken zu fallen, die mit maximalen Rüstungsanstrengungen und Sanktionen droht. Und dennoch weiter am Primat der zivilen Konfliktprävention und -bearbeitung festhalten. Es ist wichtig, dass wir die Lehren aus dem Afghanistankrieg nicht schon wieder vergessen machen und uns nicht wieder dauerhaft durch Putin in eine neue Rüstungsspirale ziehen lassen. Dass wir nicht wieder die Illusion nähren, Gewalt könne nur mit Gewalt besiegt werden.

Ich kann mir vorstellen, dass es politisch sinnvoll ist, Putin gegenüber absolute Entschlossenheit zu demonstrieren. Aber zukunftsförderlich erscheint mir die von Olaf Scholz angekündigte Invenstition von 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr nur, wenn sie mindestens hälftig in militärische und zivile Projekte investiert würde.

Gut biblisch wäre es auch, dafür einzutreten, dass die 100 Milliarden nicht zu Lasten der Geringverdienenden unserer Gesellschaft aufgebracht werden, sondern durch eine zusätzliche Besteuerung der Reichen und Aktiengewinner.

Aber damit kommen wir schon wieder in den Bereich der politischen Forderungen, die wir leicht stellen können, ohne dass sie uns und unseren Lebensstil groß berühren.

Und es ist leicht, „richtige“ Überzeugungen zu haben, aber es ist schwer sie auch zu leben.

„Gemeinschaft“ ist ein Begriff, der quasi zur DNA unserer Gemeinde gehört. Unser Freizeitheim in Hohenfelde steht für diese gelebte Erfahrung. Und wir lassen es uns viel kosten.

Doch Gemeinschaft ist kein Selbstzweck. Sie muss auch ein Ziel haben.

Ich wünschte mir, dass wir im Erleben der derzeitigen Krise über Inhalte und Ziel unserer Gemeinschaft neu diskutieren. Ich wünschte mir, übrigens ganz im Sinne Heinz Baumanns, der heute 100 Jahre alt geworden wäre, dass wir als Gemeinde deutlich für Werte einstehen. Und dass es nicht nur Einzelne sind, die sich für bestimmte Bereiche aufreiben, sondern dass sich viele miteinander auf den Weg begeben, einen Lebensstil zu praktizieren, der unseren Kindern, Enkeln und Urenkeln eine Zukunft eröffnet.

Wir werden uns wahrscheinlich recht bald daran gewöhnen müssen, unsere Zimmertemperatur herunterzuregeln, weil die Heizkosten drastisch steigen. Viele der von der Klimakrise bewegten Jugendlichen haben das schon lange gefordert und praktiziert. Viele von ihnen ernähren sich auch sehr bewusst fleischlos oder fleischarm. Oder verzichten auf ein eigenes Auto.

Warum braucht es einen so verheerenden Krieg, dass wir gezwungener Maßen das tun, von dem wir schon lange zuvor wussten, dass es zum Schutz unserer Schöpfung wichtig und notwendig ist?

Ich wünschte mir, dass wir eine Gemeinschaft sind, die nicht nur intellektuell theologisch aufgeklärt ist, sondern eine Ermutigungsgemeinschaft ist, das zu tun oder zu lassen, von dem wir wissen, dass es einfach unabdingbar ist für die Zukunftsfähigkeit unserer Welt. Dass wir einander beistehen in der Überwindung unserer Bequemlichkeit.

Und nicht zuletzt wünschte ich mir, dass wir gute Gastgeber sind für die vertriebenen Ukrainer, aber dabei nicht vergessen, dass im Schatten dieses Krieges weiterhin zahllose andere Menschen unserer Hilfe bedürfen, die aus Ländern und Kulturen kommen, die uns zunächst einmal fremder sind.

Der Druck auf die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Irak, Sudan und vielen anderen Kriegsgebieten, nimmt eher zu. Lasst sie uns nicht aus dem Blick verlieren!

Dennis Meadows, der maßgebliche Verfasser der 1972 veröffentlichten Club of Rom-Studie „Die Grenzen des Wachstums“, prophezeit in einer Nachfolgestudie, dass wir auf ein Zeitalter des Rückgangs zusteuern. Die Zeiten des ungebremsten materiellen Wachstums seien unabwendbar vorbei.

Wir als Gemeinde könnten dem begegnen, indem wir ein Ort des spirituellen Wachstums werden. Die von Gott „in unsere Herzen gegossene Liebe“ (Römer 5,4) in handfestes, selbstloses Engagement umsetzen.

Liebe – die einzige Ressource, die wächst, indem man sie teilt.

Amen

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