Spaziergang mit Heinrich Albertz

von | 13. März 2022

„Wie nah sind uns manche Tote, doch
Wie tot sind uns manche, die leben…“

Diese Zeilen Wolf Biermanns kamen mir in den Sinn, als ich kürzlich auf einem Spaziergang am Grab von Heinrich Albertz vorbeiging. Albertz liegt zusammen mit seiner Frau in dem schönen kleinen Friedhof begraben, der die Horner Kirche umgibt.

Ich schätze in Bremen die in jeder Beziehung frischere Luft, hat er einmal über seinen Umzug von Berlin nach Bremen gesagt. Einige werden noch etwas mit seinem Namen verbinden. Er war Bürgermeister in Berlin, als Benno Ohnesorg erschossen wurde, damals 1967, ein Tod, der zum Fanal wurde, die Studentenbewegung befeuerte und radikalisierte.  Ich sage ausdrücklich und mit Nachdruck, dass ich das Verhalten der Polizei billige und dass ich mich durch eigenen Augenschein davon überzeugt habe, dass sich die Polizei bis an die Grenzen der Zumutbarkeit zurückgehalten hat. Hat er damals gesagt, um Jahre später das eigene Verhalten selbstkritisch zu betrachten: 

Ich war am Schwächsten, als ich am Härtesten war.

1975 begleitete er als Gewährsmann die bei der Entführung des Berliner Politikers Peter Lorenz freigepressten Terroristen auf ihrem Flug nach Aden.

Wie nah ist mir heute Heinrich Albertz? Im Bücherregal finde ich eines seiner letzten Bücher: „Nachschläge“, das Predigten und kürzere Veröffentlichungen enthält. 

Viele Beiträge beziehen sich auf den Protest gegen die Nachrüstung, gegen die Stationierung der Pershing Raketen, sie sind erfüllt von einem prophetischen, wortmächtigen Geist, der die Friedensbotschaft des Evangeliums direkt mit der tagespolitischen Debatte verbindet: 

Jesus Christus hat die Friedensstifter – die pacifici – seliggesprochen. Er gibt uns die Richtung an, in die wir gehen müssen, wenn wir ihn nicht verleugnen und noch einmal kreuzigen wollen. Nicht erst der Einsatz der Massenvernichtungsmittel, sondern schon ihre Produktion, ihre Lagerung, die Drohung mit dem Inferno sind ein Verbrechen gegen Gott und die Menschen. Und die, die sich daran beteiligen, sind eine kriminelle Vereinigung. Denn der Mord hat längst begonnen und findet täglich statt. Wir wissen es und dürfen schon unseres Glaubens willen nicht schweigen: Tausende verhungern, weil diese Waffen bezahlt werden müssen.

Wenn ich Albertz’ Gedanken heute lese, dann schwanke ich zwischen einem „Ja“ und einem „Aber“. Das „Aber“ wird gerade jetzt stärker. Beim Friedensgebet auf dem Bremer Marktplatz trösteten mich die Posaunenchöre wie eine warme Hand, die einem über den Rücken streicht. Und doch dachteich, als die berühmte prophetische Passage von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden müssen, vorgelesen wurde: Wahrscheinlich ist es doch umgekehrt, jetzt müssen wir Pflugscharen zu Schwertern umschmieden, jetzt wird die Ökologie ein Stück weit zurückstehenmüssen, jetzt wird alles in den Verteidigungsetat gelenkt. Und ich höre, wie sie alle von der Zeitenwende reden, von dem grausamen Realismus, zu dem uns Putin zwingt, und die Naivität – manchmal durchaus selbstkritisch – geißeln, mit der wir zuvor an Verständigung, an die Unterstellung gegenseitiger Vernunft, an Frieden und Freundlichkeit geglaubt haben.

Geht es jetzt – um in lutherischen Begriffen zu reden – um Klarheit gegenüber dem „Altbösen Feind“? Müssen wir wieder lernen, auf „gute Wehr und Waffen“ zu hoffen? Oder können wir – eher franziskanisch – auf die Kraft des Sanften vertrauen, darauf, dass das Wasser auch den harten Stein besiegt? Sollen wir dem Weg des Heiligen folgen, der den Wolf von Gubbio, die Bestie des schlechthin Bösen, durch freundliche Einrede zu besänftigen vermochte? Mehr denn je ist er ja ein hoffnungsloser Heiliger am Rande, ein frommer Tor.

Eine der eindringlichsten Texte im Buch von Albertz ist eine Meditation, eine längere, fast ungerichtete Überlegung zur Bergpredigt. Er umkreist dabei das Wort „Sanftmütig“ und betont besonders den „Mut“ im Sanftmut.

Es war kalt heute Morgen auf der Rehwiese. Nebel lag über dem Gras. Finde ich zurück zu dem Mann auf dem Berge? „Sanftmütig“ übersetzt Luther hier. Ein sanfter Mut. Sanft, aber mutig. Mutig, aber sanft. Es beschreibt genau, was nötig und so schwierig zugleich ist. Was wir nicht geübt haben.

Meine Gedanken finden keinen Punkt, an dem sie sich ordnen könnten, keine Position. Ich bleibe in einem melancholischen Nachdenken, mit mir selbst im Gespräch.

Vom Spaziergang zurück treffe ich auf meine Frau, die aus dem Keller die Krücken herausholt, an denen eines unserer Kinder viele Monate lang, nach einem Verkehrsunfall, gehen musste. Sie werden in einen Transport gepackt, mit dem ein ukrainischer Freund übermorgen an die Grenze zwischen Polen und der Ukraine fahren wird. 

Heinrich Albertz ist sehr weit weg.

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