Predigt von Pastorin Isabel Klaus am 13. März 2022
Der Rufer von Gerhard Marcks ruft „Friede! Friede! Friede!“ durch die Welt. Ich habe den Rufer zuerst in Berlin entdeckt während meiner Studienzeit. Ich war beeindruckt von dieser Figur. In die Welt schreiend. So kam sie und kommt sie mir heute immer noch vor. In Berlin stehen an ihrem Sockel drei Worte: Friede. Friede. Friede.
Sie steht auch hier in Bremen. Das Original. Der erste Guss von Gerhard Marcks. Heute steht sie an der Schlachte vor dem Weserhaus von Radio Bremen. Sie steht für Frieden und Meinungsfreiheit. Nachempfunden hat Marcks die Figur der Gestalt des Stentor aus Homers Ilias. Dort heißt es, seine Stimme sei so laut wie die von fünfzig anderen Männern zusammen gewesen.
Die Skulptur sollte die Aufgabe von Rundfunk und Fernsehen möglichst zeitlos darstellen. Marcks sagte dazu: „Wenn ich jetzt da jemanden mit dem Fernseher hinstelle, denn sieht das in zehn Jahren ziemlich doof aus, weil dann sind die Fernseher ja schon viel besser. Dagegen dieses Rufen, die Nachricht in die Welt setzen, das ist immer das gleiche geblieben, ob jetzt bei den Griechen oder heute.“
Der Rufer beschäftigt mich. Am liebsten würde ich ihn tausendfach gießen lassen und ihn als Bollwerk gegen den russischen Angriff auf die Ukraine stellen. Und ich stelle es mir vor, wie tausende Rufer den Panzern im Weg stehen, und sie die Kanonenrohre anschreien und zu einem galaktischen Friedensruf werden, der bis in Putins verstopfte Ohren dringt. Und sie alle rufen:
Psalm 34:15: Lasst ab vom Bösen und tut Gutes, sucht Frieden und jagt ihm nach!
Die Bilder, die uns erreichen, die Nachrichten… sie brauchen Frieden. Wenn ich höre, dass junge Frauen aus der Ukraine gewarnt werden müssen vor Zuhältern, dann schüttelt es mich. Wenn ich sehe, wie alte Menschen in Schubkarren in Sicherheit gebracht werden, stehen mir die Tränen in den Augen. Wenn ich die Kinder sehe, die sich im Berliner Hauptbahnhof ein gespendetes Kuscheltier nehmen und es an sich drücken, wie ihren besten Freund, dann will ich schreien. Und wenn ich junge Männer sehe, die aus vielen Ländern in die Urkraine reisen, um die Ukraine zu unterstützen, dann verneige ich mich vor ihrem Mut. Und ich trauere mit allen Menschen, deren Angehörige in Massengräber gelegt werden.
Und dann verstummt der schreiende Rufer. Dann verstumme ich. Und frage mich: Was soll ich predigen? Was soll ich euch an froher Botschaft bringen, während die Welt voller Trauer und Heimweh ist? Was soll ich von Gott erzählen? Von einem Gott, den wir heute ganz anders verstehen? Ein Gott, der eben nicht am großen Rad der Geschichte dreht. Was soll ich von einem Gott erzählen, in dessen Plan sicher nicht stand, ein Land in Schutt und Asche zu legen und Millionen Menschen um ihr Zuhause zu berauben.
Was soll ich erzählen? Wir stehen vor den gleichen theologischen Fragen wie im Zweiten Weltkrieg. Es gibt keinen Gott, der in den Krieg zieht. Auch wenn das Christentum dies in seiner Geschichte oft in Anspruch nahm und Gott damit missbraucht hat.
Heute wie damals geht es um Macht, um die große Weltpolitik, um die große Weltwirtschaft, um Gas und Öl, und das bereitet mir als Theologin große Mühe. Und noch viel mehr große Sorgen. Weil es Angst macht. Angst vor den schlimmsten Szenarien. Was soll ich also von Gott erzählen?
Der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel schrieb: »Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten.« Gott ging mit jedem einzelnen …nicht Gott war abwesend, sondern die Menschlichkeit, die Liebe.
Und das ist es am Ende, was ich euch von Gott erzählen kann: In all den Bildern und den Nachrichten, die uns ängstigen, sehen wir dennoch eine große Welle der Liebe und Hilfsbereitschaft. Menschen, die einfach losfahren und helfen wollen. Menschen, die Unterkünfte bereitstellen. Menschen, die unglaublich viel Geld spenden um zu helfen. In dieser Hilfsbereitschaft steckt Gottes Liebe – ob wir glauben oder nicht glauben.
Und der Rufer ruft: 2 Korinther 13:11: Zuletzt, Brüder und Schwestern, freut euch, lasst euch zurechtbringen, lasst euch mahnen, habt einerlei Sinn, haltet Frieden! So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein.
Der Rufer führt uns zum Frieden. Ich stand diese Woche oft an offenen Gräbern und habe den Satz gesprochen: Ruhe in Frieden. Und während ich zusah, wie die Gräber würdevoll geschlossen wurden. Stellte ich mir vor, der Frieden sei nicht nur ein Wort, nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern ein lebendiges Wesen. Die mich lange kennen, wissen, dass ich gern mit solchen Ideen spiele und dann auch gar nicht mehr aufhören kann.
Und so lasse ich am Ende meiner Predigt, den Rufer eine kleine Episode vom Frieden erzählen:
Und der Frieden saß im U-Bahnschacht. Hatte sie alle, die er finden konnte, mit sich in diesen unterirdischen Hoffnungsschimmer gebracht. Seit Tagen saßen sie hier und der Frieden betrachtete die Wände. Nie hatte der Frieden sie wahrgenommen. Die Ukraine war dort in ihren Farben als riesiges Mosaik. Es war sonst wie ein Streiflicht am Frieden vorübergeflogen, als er zur Bahn rannte, um in das ewig rotierende Zahnrad seiner Stadt zu steigen und das Leben zu leben, über den Alltag zu nörgeln, dem Takt seiner Berufung zu folgen, um den alltäglichsten Cappuccino im Pappbecher für ein Symbol der Freiheit zu halten.
Nun saß der Frieden hier. Die Angst so dicht, dass er kaum Luft bekam. Die Tränen so stumm, dass er am liebsten schreien wollte. Durfte er schreien? Als Frieden? Und hatte er nicht eben noch im Supermarkt gestanden und eingekauft für einen Abend mit Geschwistern und Brettspielen? Wollten sie nicht die ganze Nacht spielen?
Nun verharrten sie. Miteinander. Schweigend. Müde. Hungrig. Und der Frieden spannte seine Flügel weit auf. Nahm sie alle unter seine Fittiche. „Dass Frieden werde! Dass Frieden werde!“ flüsterte er und neigte seinen Kopf über seine Geschwister im unterirdischen Hoffnungsschimmer des U-Bahnschachtes.
Und der Rufer rief: Philipper 4:6-7: Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren.