Gedanken von Isabel Klaus zur lesenden Maria |
Das alte Jahr geht ruhig und das neue Jahr startet ruhiger als alle anderen Jahre zuvor. Wir sind mitten im Lockdown, vertreiben uns die Zeit. Spaziergänge. Telefonate. Serienmarathon oder ein gutes Buch wie Maria, ein paar Tage nach der Geburt von Jesus. So ist es dargestellt auf einer französischen Buchmalerei aus dem 15. Jahrhundert. Und es ist kein feministischer Scherz. Diese kleine Illustration ist ein kunstgeschichtliches Rätsel und öffnet neue Perspektiven.
Den Figuren nach ist es eine klassische Krippendarstellung: Maria, Josef, Jesus, Ochs und Esel. Aber die Anordnung der Figuren ist alles andere als typisch, und die Farbgebung auch.
Blicken wir auf Maria. Sie sitzt im Bett, hat sich unter eine Decke gelegt, rot und warm sieht sie aus. Maria hat ein Buch in ihren Händen und liest. Maria legens, die lesende Maria. Ich muss gestehen, ich kann mir alles Mögliche vorstellen, wenn ich an die Tage nach der Geburt Jesu im Stall denke, aber eine Maria, die in einem schönen Bett mit einer sehr schönen Kuscheldecke liegt und liest – nein – das käme mir nicht in den Sinn. Aber den frühen alten Künstlern schon. Im Mittelalter ist diese Darstellung gar nicht so selten gewesen.
Die lesende Maria ist ein beliebtes Motiv. Maria kann in jeder Lebenslage lesen. Nicht nur in ruhigen Momenten wie es Leonardo Da Vinci eingefangen hat, als sie der Engel besucht, der ihr ihre Schwangerschaft ankündigt. Es gibt sogar Bilder, da sitzt sie bei der Flucht nach Ägypten lesend auf dem Esel, während Josef, das Kind auf dem Arm und die Zügel in der Hand, ihr vorausgeht.
Hier öffnet sich ein wirklich weites Feld. Die lesende Maria ist etwas Besonderes. Einerseits, weil lesende Frauen nicht zum Alltangsanblick des ausgehenden Mittelalters gehören. Die meisten Menschen waren Analphabeten, Frauen noch häufiger als Männer. Und Frauen, die lesen, galten als gefährlich. Frauen, die lesen, stellen die Welt auf den Kopf – und fangen womöglich an, sich Gedanken zu machen.
Noch im 19. Jahrhundert warnt ein deutscher Pädagoge: Übermäßiges Lesen führt „Schlaffheit, Verschleimungen, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden […], namentlich bey dem weiblichen Geschlecht.“ Eine lesende Maria ist potenziell gefährlich. So gefährlich, wie schon die Visionen in dem Lied, das sie nach dem Besuch des Engels singt: Gott stürzt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
Die lesende Maria im Stall ist noch aus einem anderen Grund besonders: Ihr Bild ist seit dem Mittelalter geläufig, meistens, wahrscheinlich auch auf unserem Bild, liest sie Psalmen und wird damit zum Vorbild für Nonnen und religiöse Adlige. Und schon seit der Antike gibt es den immer wieder auftauchenden Gedanken, dass Maria gebildet gewesen sein muss. Immerhin stellt sich ja die Frage, was sie dazu bringt, dem Engel relativ schnell das mit der Schwangerschaft zu glauben. Ambrosius von Mailand sagte im vierten Jahrhundert dazu: Maria kann das dem Engel nur glauben, weil sie selbst schon einmal die entsprechende Stelle aus Jesaja gelesen oder gehört hat: „Eine Jungfrau wird schwanger werden…“
Aber das ist eben das Besondere: Normalerweise gehört Marias Buch in Verkündigungsszenen. Weil Engel dann auftauchen, weil Gott dann etwas von sich preisgibt, wenn Menschen sich mit der Schrift beschäftigen, die alten Worte aufnehmen und in sich wirken lassen, und dadurch offen sind für Gottes Einfälle.
Der unbekannte französische Mönch, der im 15. Jahrhundert die lesende Maria in den Stall von Bethlehem malt, und sein ebenso unbekannter Kollege, der etwa zur selben Zeit darstellt, wie Maria bei der Flucht nach Ägypten lesend auf dem Esel sitzt, während Josef mit dem Kind auf dem Arm vorangeht – sie beide gehen davon aus: Marias Rolle ist noch nicht zu Ende gespielt. Die Bibel gibt ihnen Recht.
Werfen wir den Blick auf Josef. Er sitzt Maria buchstäblich zu Füßen, und er hält das Jesuskind im Arm. Deutlicher kann man Geschlechtervorstellungen nicht auf den Kopf stellen: Die Beschäftigung mit Kindern ist zu Marias Zeit Frauensache. Das galt im Mittelalter, und bis heute wollen uns ewig Gestrige davon überzeugen.
Mir tut dieses Bild gut. Nicht nur, weil ich es politisch korrekt finde. Sondern auch, weil mich sehr rührt, wie versunken Josef in den Anblick des Säuglings in seinem Arm scheint. Weil es mir erzählt: Wo Jesus auftaucht, da werden Rollenklischees aufgebrochen. Und da entdecken Menschen neue Seiten an sich selbst. Werden weich. Liebevoll. Ich glaube, das passiert bis heute. Die Farbgebung des Bildes unterstützt das noch: Josef trägt ein blaues Gewand. Das fällt uns heute kaum auf. Die meisten unserer Krippenfigurenjosefs, ob aus Plastik, Keramik oder aus dem Erzgebirge, tragen auch Blau. Die Männerfarbe, möchte man klischeegebeugt meinen. Nur: Das war sie zu der Zeit nicht.
Egal, was die Spielzeug- und Kinderbekleidungsindustrie sagt: Es gibt keine biologisch angelegten Farbvorlieben bei Mädchen und Jungs.Es gibt nur gesellschaftliche Konventionen, welche Farbe zu welchem Geschlecht gehört. 1918 schreibt eine amerikanische Frauenzeitschrift: Rosa ist die „viel kräftigere und daher für Jungen geeignetere Farbe“. 1927 lässt die belgische Prinzessin Astrid das Kinderzimmer ihres Sohnes in der „Jungenfarbe Rosa“ dekorieren. Weil Rosa das „kleine Rot“ ist und damit an Königspurpur, Blut und Kampf erinnert -gut, auch da rollen wir heute die Augen und fragen uns: What? – aber wir trösten uns damit, dass Blau seit alters her die Marienfarbe ist, und damit die bevorzugte Farbe für Mädchen- und Frauenkleidung. Zumindest war das so, bis sich im letzten Jahrhundert die Blue Jeans als Arbeitskleidung durchsetzten. Zum Glück trug der malende Mönch aus Frankreich keine Blue Jeans. Für ihn war klar: Wo Gott zur Welt kommt, da wird es bunt.
Ein Blick auf Josef und den Esel: Josef hält den Kleinen behutsam im Arm. Bestaunt ihn, wie es wohl alle Eltern tun: zählt die Fingerchen nach und auch die kleinen Zehen. Versucht die Augenfarbe zu ergründen! Schaut seinen neugeborenen Sohn an. Seinen Sohn. Ja. Er wird ihn großziehen, zusammen mit seiner Frau. Wird die ersten Schritte begleiten und ihn in der Werkstatt an sein Handwerk als Zimmermann heranführen. Den Erstgeborenen. Jesus. Das Gotteskind. Es stört ihn nicht, dass der neugierige Esel im Hintergrund des Bildes seinen Heiligenschein anknabbert.
Kurz nach Weihnachten, zum Beginn des neuen Jahres öffnet dieses Bild für mich eine ganz neue Welt: Denn meine Vorstellungen von Stall und Krippe waren immer anders. Ich stellte mir den Stall schmutzig vor, stinkend durch den Mist der Tiere, kalt und dunkel. Ein Kronleuchter wird da nicht gehangen haben. Und Joseph und Maria, ich weiß auch nicht, ich stellte mir sie immer als einfache Leute vor. Keine Stadtmenschen… Aber eine Maria, die in einem schönen Bett, mit einer sehr schönen Kuscheldecke liegt und liest – das lässt mich staunen, neu denken. Dazu Joseph mit seiner Warmherzigkeit – und wir wissen über Joseph nun wirklich nicht viel – das berührt mich. Und dass er dann auch noch die klassischen Farben seiner Frau trägt. Frauenkleider womöglich. Donnerwetter. Das tut gut. Und so nehme ich dieses kleine unscheinbare Bild, das so klassisch wirkt, aber eine sehr zarte und starke Revolution in sich birgt mit auf die neuen Tage dieses Jahres. Alles kann anderes werden, als es zu sein scheint. Es kann kraftvoll werden und wunderschön.