Zu Weihnachten übt Gott den Spagat

von | 27. Dezember 2020

Eine ungehaltene Predigt

Gott im Spagat. Da entsteht vor meinem Auge in Ahnlehnung an die vielen witzigen Postkarten, die jedes Jahr neu zu Weihnachten verschickt werden, das Bild eines weißbärtigen Alten im roten Mantel, der sich ächzend in die Grätsche müht. Und ich stelle fest, irgendwie haben der Weihnachtsmann und Gott in bildlichen Darstellungen eine auffallende Ähnlichkeit: Es sind kräftige, wohlgenährte, weiße, vollbärtige Patriarchen. Oder kurz und modern gesagt: Weiße, alte Männer…

Wenn wir diese Bilder hinterfragen, dann entwerfen wir neue Bilder, mit weiblichen Attributen vielleicht. Doch auch diese werden Gottes Wirklichkeit nicht annähernd widerspiegeln können. Unsere Bilder von Gott sagen mehr über unsere Erfahrungen, Sehnsüchte und Anschauungen von der Welt aus als über das Wesen Gottes.

So ähnlich ist es auch mit der Geburtsgeschichte Jesu. In ihr ist, kritisch beleuchtet, kaum etwas wirklich historisch belegbar. Sie ist wie ein nachgeholter Ergänzungsbericht, der die Anhänger Jesu nach der Erfahrung seines Scheiterns und seiner, wie auch immer zu verstehenden, Auferstehung von seiner Messianität endgültig überzeugen soll. Detail um Detail werden mit den Weissagungen der Thora in Übereinstimmung gebracht. Die Weihnachtsgeschichte ist eine Glaubensgeschichte, deren Wahrheit nicht in ihrer Historizität fusst, sondern darin, dass Menschen sich entscheiden, die Welt durch die Augen Jesu zu sehen, aller scheinbar rationalen Logik zum Trotz seinem Vorbild zu folgen und darüber hinaus in ihn etwas hinein zu interpretieren, was er selber für sich nicht in Anspruch genommen hat: Dass er nämlich der ersehnte Messias sei. Unwahr ist die Geburtsgeschichte Jesu dennoch nicht.

Neben der Wahrheit wissenschaftlich belegbarer Fakten gibt es nämlich eine Wahrheit des Herzens und der Seele. Auch Fake News und Verschwörungstheorien sprechen diese Ebene der Wahrheit an, das Gefühl der Verlorenheit in einer immer komplexer werdenden Welt, zum Beispiel.

Doch während Verschwörungsmythen das Wirken düsterer, das Leben der einfachen Menschen bedrohender Mächte heraufbeschwören, entwerfen die biblischen Mythen Visionen gelingenden Lebens. Sie sind in Krisen entstandene und erprobte Geschichten der Hoffnung auf eine Welt von Gerechtigkeit und Frieden.

Wenn mir als diesjähriges Weihnachtsmotto „Gott übt den Spagat“ durch den Kopf geht, dann steckt dahinter nicht zuerst eine theologische Überlegung, sondern die Erfahrung, dass ich mein Leben gerade im Rückblick auf das vergangene Jahr immer wieder als Spagat erlebte.

Die Spannung zwischen beängstigenden Nachrichten über die Entwicklung der Pandemie und die abwiegelnde innere Stimme „Wird schon nicht so schlimm!“. Die Einsicht, dass einschneidende Kontaktbeschränkungen im jetzigen Lockdown notwenig sind und das trotzige Aufbäumen dagegen, weil wir mit unserer großen Familie uns dennoch treffen wollen. Oder die Erkenntnis, dass die Entwicklung der Elektromobilität nur eine neue riesige Ressourcenverschwendung ist und gleichzeitig mein Wunsch, dennoch ein eigenes Auto zu besitzen.

Überall ein Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zwischen dem Genuss von Privilegien und dem Bewusstsein notwendigen Verzichts.

Vor diesem Schmerz über meine eigene Inkonsequenz und strukturelle Verflochtenheit in lebensfeindliche Strukturen, höre ich das „Wahr Mensch und wahrer Gott“ ganz neu. Es berührt mich nicht theologisch-philosophisch, als „Zwei-Naturen-Lehre“, sondern bringt mir Gott näher als jemanden, der um seiner Glaubwürdigkeit, Liebe oder Berührbarkeit willen auf göttliche Privilegien verzichtet, indem er Mensch wird. Das ist ein Gott, der veränderungsfähig ist, bereit zum Verzicht, leidensfähig um der Zukunft der ganzen Schöpfung willen, ein risikobereiter Gott auf dem Weg.

Ich weiß nicht, ob der Schritt hin zum Menschen total war. Wie hätte er dann von den Toten auferweckt werden können? Oder ob er sein Bein doch wieder aus dieser Welt herausgezogen hat und sein Menschwerdung nur ein kurzes Schauspiel war, ein Zaubertrick, dem wir auch 2000 Jahre später noch auf den Leim gehen.

Weil ich es nicht weiß und weil ich selber in vielem meine Unentschlossenheit und Furcht vor den unbekannten Folgen radikaler Entscheidungen fürchte, stelle ich mir vor, dass Gott noch im schmerzhaften Spagat ausharrt, so wie ich.

In der Theologie gibt es hinsichtlich der Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes den Begriff des „Schon jetzt und noch nicht“. Es ist eine schmerzhafte, aber doch wichtige und produktive Zwischenzeit, in der etwas Neues reift.

Auch dafür gibt es Geschichten: Das Volk Israel, zum Beispiel, irrt nach seiner Befreiung aus Ägypten vierzig Jahre durch die Wüste, bevor es das verheißene Land betritt. Von Jesu Reifungsprozess und inneren Auseinandersetzungen in seinen ersten 28 Lebensjahren wissen wir nichts. Und bevor er in das Licht der Öffentlichkeit tritt, geht er vierzig Tage allein in die Wüste. Gewiss keine angenehme Zeit.

Weihnachten ist mir in diesem Jahr mehr als das beruhigende „Fürchtet Euch nicht!“

Es ist die Aufforderung und Einladung Gottes unsere Privilegien auf den Prüfstand zu stellen und den Schmerz über unsere mutlose Inkonsequenz zum Thema unserer nachweihnachtlichen Gespräche zu machen.

Amen

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