Gestern Morgen, direkt am Stadtwaldsee: Auf dem Gitter, das den Schwimmerbereich abgrenzt, sitzen sie, schwarz und mit starker Kontur vor dem diesigen und grauen See, vier Kormorane. Ganz unbewegt, vor sich die Wasserfläche. Als ob sich ihre Ruhe auf mich übertrüge, bleibe auch ich stehen. Auf einmal öffnet einer der Kormorane seine Flügel, ein anderer folgt ihm, keiner aber will losfliegen, die beiden bleiben in dieser ausgestreckten Haltung auf dem Gitter. Luft füllt ihre Flügel, spannt sie auf, als wollten sie ihre ganze Erscheinung zur Geltung bringen, majestätisch wirken sie und sind doch einfach nur „da“.
Zurück im Wald komme ich an dem merkwürdigen Rundtempel auf der Anhöhe vorbei. Am Rande des dunklen Teiches, der darunter liegt, steht ein Reiher, die langen Beine mal eben gerade im Wasser. Ich verlangsame meinen Schritt, um ihn aus einer ihn nicht störenden Entfernung anzusehen. Auch er blickt in meine Richtung. Sieht er mich? Wer bin ich in seinem Blick? Habe ich eine Farbe? Bin ich für ihn ein Schatten oder scharf abgegrenzt? Der Teich zwischen uns ist dunkel, ein schwarzes Auge, auf dem Herbstlaub liegt.
Für einen Moment haben sich zwei Weltwahrnehmungen geschnitten, der Blick des Tieres, mein Blick, zwei getrennte Welten und doch eine Welt. Als Kind habe ich manchmal ganz lange hinter dem Weidezaun in die dunklen Augen einer Kuh gesehen. Was denkt sie jetzt? Was sieht sie? Unendlich tief und weit schien die Welt hinter ihren Augen.
Als ich wieder im Freien, zwischen den Kleingärten bin, höre ich auf einmal einen heiseren, fast fordernd klingenden Vogellaut in der Luft. Ein Zug Wildgänse über mir fliegt in der Formation eines nach vorne gerichteten Keils mit schnellem Tempo südwärts.
Wer steuert sie? Spüren sie den Rhythmus ihres Fliegens, eins am anderen? Bilden sie zusammen so etwas wie ein kollektives Ich, in dem der Einzelne immer weniger ist als alle zusammen? Mir fällt ein Gedicht über einen Vogelzug ein, Brecht hat es geschrieben:
Seht jene Kraniche in großem Bogen
Die Wolken, welche ihnen beigeben,
zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
aus einem Leben in ein anderes Leben.
Zu Hause denken die Tiere noch in mir nach, der Kormoran, der Reiher, die Wildgänse. Nein, ich glaube nicht, dass die „Natur“ „Gott“ ist und ein Waldspaziergang einen Gottesdienst ersetzen kann. Da halte ich es lieber mit EKG 510:
Und doch sind sie nur Geschöpfe
Von des höchsten Gottes Hand,
hingesät auf seines Thrones
weites, glänzendes Gewand.
Aber ich bin gerührt durch die Gebärde der Tiere, die ich als Hinweise deute: die gelassene Haltung der Kormorane, die Unverwandtheit des Reihers, der zugleich zu träumen und zu wachen scheint, die in der Bewegung verbundenen Wildgänse. Und doch spüre ich auch eine Grenze, eine Grenze zur Lebenswelt eines anderen Geschöpfes, eine Grenze, die auch eine Grenze meines Verstehens ist.
Gerade jetzt in Coronazeiten brauche ich solche Momente der Verinnerlichung, in denen sich die sinnlich erfassbare Welt für einen Moment verzaubert, wieder rätselhaft wird.
Bernhard Gleim
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