Gedanken von unseren Bauherren

von | 27. Mai 2020

Wo ist die Kirche?

Manchmal stelle ich mir vor, ein Außerirdischer wäre auf dem Riensberg gelandet und käme nun – mitten im schönsten Frühling – die Friedhofstraße hinunter. Er sähe die Farbenpracht der Blumenhandlung Feddermann mit Staunen und dann direkt dahinter unsere Kirche: Den Ziegelsteinkasten mit dem ausladenden Dach und dem grünen Knubbel drauf. Er träte näher heran und fände den Kasten verschlossen, aber von drinnen erklingt wunderbare Musik, jemand spielt Orgel, aber er kommt nicht rein. 

Dann geht er hinüber in den zum Glück wieder eröffneten Kiosk der Frau Zwick und fragt: Was ist das da drüben?  

Es ist eine Kirche, sagt Frau Zwick, aber sie ist verzaubert.

Und dann erzählt sie ihm, dass drinnen eine junge Organistin säße, bis in alle Ewigkeit dasäße und orgeln müsse. 

Toccata und Fuge, Sie wissen schon, sagt sie und holt den Fremden näher zu sich heran, als verriete sie ihm ein Geheimnis.

Toccata und Fuge kennt er nicht, aber weil in den Weltraum hinaus natürlich schon Richard Wagners Musik gedrungen ist, denkt er an den „Fliegenden Holländer“, der mit seinem Geisterschiff ewig unerlöst auf den Weltmeeren segelt:

Da drüben spielt eine unerlöste Organistin und hört und hört nicht auf.

Und es schaudert ihn ein wenig und er friert im schönsten Frühling. 

Stopp, stopp, stopp! Da ist die Kirche!

Ich wache aus meinem Alptraum auf. Die Kirche ist doch da, denke ich.

Erlebnisse mit ihr in der letzten Zeit:

Ein Abend vor ein paar Tagen, an dem wir in großem Abstand aber mit einander verbunden zusammen saßen und die Kandidaten für die neu ausgeschriebene Pfarrstelle befragten. Wo so ein lebendiger Geist des Fragens und der Neugier herrschte, dass auch unsere Kandidaten sehr beeindruckt waren.

Ich denke an den Ausschuss für die Wahl einer Diakonin/eines Diakons, in dem besonders viele junge Mitglieder der Gemeinde sitzen, denn schließlich geht es hier um die Kinder- und Jugendarbeit. An die Gruppe, die sich wöchentlich mit unserem Freizeitheim in Hohenfelde beschäftigt.  Im Maschinenraum der Kirche ist es heiß, da brummt und rattert es. Und bald wird auch das Liebeswerk der „Tüten“ an unserem Gemeindehaus wieder starten, die „Taler“ müssen noch etwas warten.

Außerdem haben wir uns eine glänzende Haut zugelegt, die in verschiedenen Fenstern nach außen dokumentiert, was wir sind: In den Onlinegottesdiensten, in den Briefen und Texten. Sehen Sie sich den Digitalchor mit dem irischen Reisesegen an. Die Organistin muss nicht ewig auf der Orgelbank sitzen und Reger und Rheinberger spielen.

Und die Kirche ist da, wo sie erwartet und erhofft wird. Ein Gemeindeglied schreibt mir: 

Ja, Remberti fehlt auch mir und all die Aktivitäten bei denen ich beteiligt war. Nun gibt es wieder offene Kirche und Gottesdienst in der Kirche. Es geht aufwärts!

Besonders hat mich beeindruckt, dass eine Frau aus der Gemeinde sich zur Osternacht in der Kirche einschloss und dort still in den Ostermorgen hinein meditierte. Man kann andere im Gebet vertreten. Das ist eine praktische Auslegung von Röm 8,26–27.

Wo ist die Kirche?

Diese Frage hat natürlich noch eine grundsätzliche Dimension. Sie fragt nach der Haltung, nach der Position der Kirche. Ein Gemeindeglied schreibt:

Ich vermisse Eure Stimme! Wo seid ihr? Ich kann Euch nicht hören!

Wir haben eine weltweite Pandemie und …- und jetzt? Ruhe!…?

Die ganze Welt steckt in einer großen Not und könnte diese geistige und seelische Hilfe so gut gebrauchen.

Die Corona Pandemie hat uns einen riesigen Kontrollverlust beschert, Selbstverständlichkeiten unseres Verhaltens zerstört, Unsicherheitsgefühle geweckt. Und nun versuchen wir, durch Disziplin, Abstand und Hygiene, die Kontrolle wiederzugewinnen. Und fühlen doch: Die Erschütterung sitzt tiefer, der Untergrund, auf dem wir leben, ist schwankend, unser Leben zerbrechlich, war es immer schon. Das Gefühl des Kontrollverlustes kann man nicht allein dadurch bekämpfen, dass man die Selbstkontrolle erhöht, man muss sich den tieferen Erfahrungen des Verlustes stellen.

Wo ist die Kirche? Auf diese große Frage weiß ich keine große Antwort. Aber ich versuche eine sehr kleine, den Anfang einer Antwort. 

Kürzlich las ich in der Frankfurter Anthologie, diesem wöchentlichen Lyrik-Schatzkästlein der FAZ, ein Gedicht von Adam Zagajewski aus dem Jahre 2001. Es heißt: Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen und ist vielfach als Antwort auf die Erschütterung durch den Einsturz der Twin Towers 9/11 gedeutet worden:

Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen. Denke an die langen Junitage…

so beginnt es

Und dann mischt der Dichter Erinnerungen des Glücks mit den Bildern des Schreckens: 

Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen. Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen. Du solltest die verstümmelte Welt besingen.

Um am Ende zu einer Bejahung der Welt zu kommen, ohne Verdrängung, ohne leeren Optimismus:

Besinge die verstümmelte Welt und die graue Feder, die die Drossel verlor, und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet und wiederkehrt.

Die Organistin kann von der Orgelbank herunterkommen. Wir können Lieder singen, die das Leben bejahen, ohne das Leid auszublenden. Keine heile Welt. Wir leben in einer verstümmelten Welt. Da ist die Kirche.

Bernhard Gleim

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